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    John und Jane
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    John und Jane
    Von Jörn Schulz

    Jeder hat schon mal eine in Anspruch genommen, denn heutzutage führt einfach kein Weg an ihnen vorbei: die Hotlines diverser Unternehmen. Sei es nun, um dem Mobilfunkanbieter die neue Wohnadresse mitzuteilen oder vom Verlag der Wochenzeitung eine falsche Abbuchung korrigieren zu lassen – alle größeren Unternehmen verfügen über die Möglichkeit, telefonisch mit ihnen in Kontakt zu treten. Schon mal darüber nachgedacht, wer da eigentlich am anderen Ende der Leitung sitzt? Bei deutschen Hotlines handelt es sich dabei meist um einen mehr oder weniger gut ausgebildeten Kundendienst-Mitarbeiter, der in einem Großraumbüro irgendwo im deutschsprachigen Raum sitzt. Ganz anders ist das in den USA: Hier kann es gut sein, dass man als Anrufer nach dem Wählen der 1-800-Servicenummer z.B. eines Versandunternehmens unwissentlich nach Indien umgeleitet wird (natürlich ohne zusätzliche Gebühren zu zahlen). Hier nimmt eine freundliche Stimme die Bestellung oder eine Beschwerde entgegen. Von diesem Globalisierungsphänomen handelt der Call-Center-Dokumentarfilm „John & Jane“ des indischen Regisseurs und Drehbuchautors Ashim Ahluwalia, der alles andere als nettes Bollywood-Kino produzieren will. Experimentell und zugleich kritisch zeigt die Dokumentation, welche Auswirkungen die globalisierte Welt hat und wie dominant die virtuellen Jobs das Leben und Denken der indischen Mitarbeiter bestimmen.

    Ein riesiges Call-Center in Mumbai: Episodenhaft portraitiert „John & Jane“ das Leben und die Arbeit von sechs indischen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die von Indien aus amerikanische Kunden diverser US-Unternehmen betreuen. Gezeigt werden die Protagonisten etwa beim Entgegennehmen von Bestellungen und Reklamationen, beim Generieren neuer Kundendaten oder beim Versuch, Telefontarife und Versicherungen zu verkaufen. Neben dem Arbeitsalltag im Großraumbüro hat Regisseur Ashim Ahluwalia aber auch die private Seite, die Hoffnungen, Träume und Wünsche der sechs Telefonisten eingefangen und in die Portraits eingearbeitet, um einen fast ethnologischen Einblick in die Alltags- und Gedankenwelt seiner Hauptdarsteller zu bekommen. Das ist z.B. Glen, der seinen Job und besonders seinen Vorgesetzten dermaßen hasst, dass er am liebsten dessen Frau verführen würde, um ihm dann direkt ins Gesicht sagen zu können, wie es sich anfühlt mit ihr zu schlafen. Da ist außerdem Osmond, der dem amerikanischen Traum hoffnungslos verfallen ist und felsenfest daran glaubt, mit seinem Telefonjob und mit dem Verkauf von Amway-Produkten irgendwann einmal Millionär werden zu können. Vorgestellt wird auch die blonde Inderin Namrata, die sich durch ihr Aussehen und ihren Job dermaßen mit der amerikanischen Kultur verbunden fühlt, dass sie ihre indische Identität am liebsten leugnen würde.

    Damit ist auch schon eine zentrale Aussage des Films beschrieben: „John & Jane“ – übrigens die Pseudonyme für den Durchschnittsamerikaner bzw. –amerikanerin – kann als Statement eines indischen Regisseurs verstanden werden, der die voranschreitende Amerikanisierung in seinem Heimatland aufzeigen will. Gesprochen wird im alltäglichen Leben fast nur noch Englisch; das Abendessen kommt von McDonalds; und das Traumziel sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist kein falsches Nationalgefühl, das Ahluwalia mit seinem Film schüren will. Er zeigt vorrangig die Auswirkungen eines immer weiter zusammenrückenden globalen Dorfes auf und beschreibt somit aus seiner Perspektive die Auflösung und Verschmelzung unterschiedlicher Kulturen zu etwas Uniformem.

    Die einzelnen Portraits laufen immer nach einem ähnlichen Schema ab. Das klingt zwar nach Monotonie, verdeutlicht aber letztlich wunderbar die Gleichförmigkeit und Austauschbarkeit der Mitarbeiter. Die filmische Form unterstreicht also gekonnt den Inhalt. So werden zum Beispiel zu Beginn eines jeden Portraits die Kundendienst-Mitarbeiter tagsüber in ihrem Bett schlafend gefilmt, was anfangs eine friedliche, fast kindliche Stimmung verbreitet. Später jedoch wird deutlich, dass die Telefonisten wegen der Zeitverschiebung nur nachts arbeiten können und am Tage schlafen müssen, was ihren Lebensrhythmus vollkommen verschiebt. Anders als bei Nachtkrankenschwestern, Taxifahrern oder Bäckern kommt es für die Call-Center-Mitarbeiter erschwerend hinzu, dass sie nachts eine andere, eine amerikanische Identität annehmen müssen. Aus Vandana wird Nikki, Nikesh verwandelt sich in Nicholas und Namrata wird zu Naomi. Der Identitätskonflikt ist vorprogrammiert; manchmal wirken sie durch ihre virtuellen Jobs wie abgekoppelt von der eigenen Gesellschaft, vom realen Leben. Durch den ständigen Identitätswechsel erinnern die Protagonisten in „John & Jane“ denn auch eher an Scarlett Johansson und Bill Murray aus Lost In Translation. Sie wirken nicht ganz da, irgendwie verloren; der Nebel der Verschleierung hängt über ihnen, was aber nach einem 14-Stunden-Arbeitstag verständlich ist. In Sachen Arbeitsbedingungen werden gewisse Parallelen zur deutsch-österreichischen Dokumentation Workingman´s Death sichtbar.

    Die aufrüttelndsten Momente der Dokumentation sind die diversen Schulungen, die die Mitarbeiter durchlaufen müssen, um als Telefonist arbeiten zu können. Neben der sprachlichen und phonetischen Übungen – die durchaus plausibel erscheinen – werden Glen, Sydney und die anderen auch dazu angehalten, Kurse in US-Staatsbürgerkunde zu belegen. Hier müssen sie die heiligen, amerikanischen Werte wie Individualismus, das Streben nach Glück und Reichtum sowie das Prinzip des Amerikanischen Traumes auswendig lernen. Sie werden quasi einer Art Gehirnwäsche unterzogen. Ein Mitarbeiter, der zu Protokoll gibt, sich die USA als das Paradies auf Erden, ohne Staub und Dreck vorzustellen, verdeutlicht, wie gut der Weichspülgang funktioniert.

    Von filmischer Seite aus gesehen ist „John & Jane“ eine Mischung aus konventioneller Dokumentation gepaart mit spielfilmartigen Sequenzen, die einem die Protagonisten näher bringen. Die laue Dramaturgie, die teils langen und unkommentierten Aufnahmen und die bereits erwähnten Wiederholungen sind nicht unbedingt jedermanns Geschmack, erzeugen aber eine durchaus dem Sujet angemessene und angespannte Atmosphäre. Die sphärischen Kamerafahren durch Mumbai (früher Bombay) und die Zeitrafferaufnahmen mit Blick über die Stadt sind indes schick. Elektronische Klänge unterstreichen die präsentierte Virtualität.

    In „John & Jane“ verbindet Regisseur Ashim Ahluwalia sechs verschiedene Positionen von sechs unterschiedlichen Menschen, die alle den gleichen Job haben, zum einem filmischen Zeitdokument, indem Konsequenzen der Globalisierung aufgezeigt werden. Ursachen wird in der Dokumentation nicht auf den Grund gegangen; aber letztlich weiß jeder Zuschauer, dass es für US-Unternehmen billiger ist, Menschen in indischen Call-Centern zu beschäftigen. Damit reiht sich Ahluwalias Film in die Reihe der globalisierungskritischen Filme wie The Take - Die Übernahme oder We Feed The World - Essen global ein. „John & Jane“ konzentriert sich auf die Alltagsebene der Protagonisten und bietet somit einen lebensnahen Einblick in deren Erlebniswelt.

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