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    Love & Dance
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Love & Dance
    Von Martin Thoma

    „Love & Dance“ erzählt die Emanzipationsgeschichte eines 13-jährigen Jungen aus schwierigen sozialen Verhältnissen als Tanzfilm. Regisseur und Drehbuchautor Eitan Anner hat ganz sicher nicht das Rad neu erfunden, aber er bringt es souverän zum Laufen. Die Kombination von deutlicher, durchaus sperriger Sozialkritik mit dennoch beschwingtem Feelgood-Faktor machte den Film zu einem sicheren Dauerläufer auf (Kinder)filmfestivals in Berlin, Wien, Rom und Moskau.

    Chen lebt in Ashdod, einer weniger schönen Stadt in Israel, in die es viele russische Einwanderer verschlagen hat. Sein Vater stammt aus Israel, seine Mutter aus Russland. Folglich ist er zur Hälfte ein Russe, meint Chen. Aber mehr als zur Hälfte kein Russe, meint sein Vater. Blöd, wenn sich die Elternteile als zwei Parallelgesellschaften herausstellen. Chens Vater hält nicht mehr viel von seiner russischen Frau – vorsichtig formuliert. Sein Geld verdient er als Hochzeitsfotograf - eine gute Gelegenheit, um seinen Ehefrust an jungen Paaren auszulassen -, aber eigentlich fotografiert er am liebsten die Wüste. Chens Mutter ist kurz davor, an ihm zugrunde zu gehen. Chen geht tanzen. Tanzen, Standardtanz, ist etwas, das in Ashdod eigentlich nur die Russen machen. Sein Vater sollte davon also besser nichts wissen: Wer zu mehr als zur Hälfte kein Russe ist, müsste schon stockschwul sein, um so etwas zu tun. Der Tanzkurs wird vom Tanz- und Ehepaar Yulia und Roman Rabinovich geleitet. Früher in Russland waren sie Stars. Das sind sie nun offensichtlich nicht mehr. Roman hat das nicht verwunden, aber zum Ausgleich vögelt er sich durch seine Bauchtanzgruppe. Yulia (beeindruckend: Yevgenia Dodina) nimmt es hin, bleibt so realistisch und pragmatisch, dass es weh tut – vor allem ihr. Chen interessiert sich gar nicht fürs Tanzen, sondern für die verzweifelt selbstverliebte Natalie, deren Zauber er erliegt, als er sie vor einem Spiegel tanzen sieht. Wegen ihr möchte er in die Tanzgruppe, aber es gelingt ihm nur dank Sharon, einem zur Gänze nichtrussischem Mädchen, das ihn kurzerhand zu ihrem Tanzpartner erklärt. Chen würde lieber mit Natalie tanzen, doch Yulia lässt ihn nicht. Es könne ja nun nicht darum gehen, dass die Tanzpartner ineinander verknallt sind und außerdem habe sich Sharon bisher standhaft geweigert, mit irgend einem anderen Jungen zu tanzen, als eben mit ihm. Das mit Liebe & Tanz & Logik scheint nicht so einfach zu sein, und mit Sharon ist im Laufe des Films ganz sicher noch zu rechnen.

    „Love, Hate & Dance“ wäre auch kein verkehrter Titel für diesen Film gewesen. Was sich dem 13-jährigen Chen, aus dessen Perspektive der Film konsequent erzählt ist, hier an in Hass umgeschlagener Liebe präsentiert, ist nicht gerade wenig. Dass es Eitan Anner dennoch gelingt, einen positiven, optimistischen Grundton zu halten, ohne Pathos, ohne Kitsch und ohne gröbere Verletzungen der Glaubwürdigkeit, zeigt sein Können als Regisseur und Drehbuchschreiber.

    Bizarr beginnt es auf einer Hochzeitsfeier. In einem Nebenraum, nur von Chen beobachtet, geht der Bräutigam mit einem Messer auf die Braut los. Chens Eltern zeigen sich von seinem Bericht nicht übertrieben schockiert. Man ahnt schon, warum nicht. Auf der Liebe aller Pärchen in diesem Film liegt (scheinbar von Anfang an) kein Segen, und insbesondere das präsentierte Männerbild ist alles andere als freundlich. Die freudlosen Hochzeitsfotos, die Chens Vater mit Spaß an der eigenen Gemeinheit fabriziert, sind dafür nur das letzte Symbol. Chen steht in der Mitte zwischen zwei Menschen, denen er sich vernünftigerweise eigentlich nur entziehen kann. Sein Vater sucht immer wieder das vertrauliche Gespräch mit ihm, doch was er ihm zu sagen hat, lässt sich in einem Rülpser und einem kumpelhaften Lachen zusammenfassen. Seine Mutter braucht ihn vielleicht mehr, als Chen umgekehrt sie.

    Auch in der Kindertanzgruppe gesellt sich zum Tanz nicht allein die Liebe. Wenn die Kinder tanzen, soll es aussehen, als seien sie ein erwachsenes Liebespaar. Und so ein Paar, das sind nicht bloß ein Mann und eine Frau, das ist vor allem eine Menge harter Arbeit, erklärt Yulia. Die Arme weiß nun wirklich, wovon sie spricht. Natalie und Artur, der Junge, der ihr Tanzpartner ist und offenbar auch so etwas wie ihr Freund, arbeiten auch hart. Schließlich will Natalie ein Star werden. Sie muss es geradezu, als Kompensation für ihr praktisch nicht vorhandenes Selbstwertgefühl. Die ganze Zeit, während die beiden tanzen und ein perfektes Paar simulieren, beschimpft Artur sie und ihre angebliche Hässlichkeit.

    Nicht zuletzt auf der gesellschaftlichen Ebene sieht es schlecht aus mit der Liebe. Den Glaubensbrüdern aus den GUS-Staaten schlägt in Israel Hass entgegen. Die vielleicht eindrucksvollste Szene des Films ist der auf einen kleinen Sportplatz verlegte Vorausscheid zur nationalen Tanzmeisterschaft. Vor dem Zaun um die Tanzenden versammelt sich eine Gruppe Leute verschiedener Altersstufen und bepöbelt die „heidnischen“ „Sowjets“ aufs Heftigste.

    Der Tanz steht hier natürlich auch für die Kultur der russischen Parallelgesellschaft, die in der Gestalt von Chens Eltern mit der israelischen auch so ein enttäuschtes Pärchen bildet. Der halbe Russe Chen wird es möglicherweise einmal besser machen. Solche Symbolik wird aber nicht überstrapaziert. Genauso wenig ist Tanz hier das Allheilmittel, das einen zum besseren, sozialeren Menschen macht, nicht der Weg zum ganz neuen Selbstbewusstsein und auch nicht das Vehikel für eine dieser „Lebe deinen Traum“- und „Du kannst alles schaffen, wenn du an dich glaubst“-Geschichten, wie man sie aus dem amerikanischen Kino zur Genüge kennt. Auf solche Plattheiten verzichtet „Love & Dance“. Der Film bleibt unaufgeregt. So wie seine Protagonistin Sharon, die als einzige der Figuren genau weiß, was sie will und in sich ruht, dabei aber mutig als erstaunlich spröde Erscheinung gezeichnet ist, die die Sympathien der Zuschauer nicht gerade im Sturm erobert. Das tut keine der Figuren in diesem Film.

    Dennoch, „Love & Dance“ macht nicht depressiv, im Gegenteil. Von den Tänzen geht Kraft aus. Wenn Chen und Sharon Tanzschritte auf den Dächern üben, ist er da, der Feelgoodfaktor. Sharons Liebe zu Chen mag vielleicht so einseitig bleiben wie Chens Liebe zu Natalie. Und der Untergrund mag ein gefährlicher sein - Natalie steht später auf eben so einem Dach, und es sieht so aus, als könnte sie sich hinunterstürzen. Doch Menschen bewegen und ändern sich, und sie bewegen sich nicht notwendigerweise immer direkt in den Abgrund. Zum offenen Ende beim nationalen Tanzausscheid in einer großen mittelhässlichen Turnhalle öffnen sich die festgefügten Konstellationen. Alles ist in Bewegung und bricht trotzdem nicht völlig auseinander.

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