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    Das jüngste Gewitter
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Das jüngste Gewitter
    Von Andreas Staben

    Ein bekannter amerikanischer Kritiker verglich Roy Anderssons vorigen Film „Songs From The Second Floor“ mit einem Kometen, der auf die Erde gefallen ist. So versuchte er die Fremdheit und das Eigentümliche dieses Werks in Worte zu fassen. Ähnlich könnte auch der jetzt in unseren Kinos zu bewundernde „Das jüngste Gewitter“ beschrieben werden, den der schwedische Regisseur sieben Jahre später fertiggestellt hat. Ohne Handlung im engeren Sinne erzählt Andersson von nichts weniger als der „Condition humaine“, den Bedingungen und den Umständen des menschlichen Daseins. Dies tut er mit pessimistischer Prägnanz, aber auch mit viel Humor. Im Vergleich zu „Songs From The Second Floor“ wird ein leichterer Ton angeschlagen, aber Anderssons Methode bleibt die gleiche. Der Regisseur kommt wieder mit wenig mehr als fünfzig, entsprechend langen Einstellungen aus und setzt so gut wie keine Kamerabewegungen ein. Seine sorgfältig durchkomponierten, in der Totale gefilmten Tableaus sind eine Herausforderung an die Sehgewohnheiten und eine Offenbarung für jeden, der sich auf sie einlässt und die Augen auf Entdeckungsreise schickt.

    „Das jüngste Gewitter“ beginnt mit einem Mann, der auf der Couch in seinem Büro aus einem bösen Traum erwacht. Diese Szene bildet mit der allerletzten Einstellung eine Klammer um eine lose Folge von städtischen Alltagsepisoden. Ehekrach und Sex, Geschäftsmeeting und Friseurbesuch, Proben mit der Jazz-Band und Singen in der Badewanne, Hochzeit und Beerdigung – all dies und vieles weitere findet Platz im Panorama des Lebendigen. Personen und Schauplätze wie eine Bar, ein Treppenhaus und Wohnräume kehren in unregelmäßigen Abständen wieder, genauso wechseln Realität und Traum einander ab. Viele Bezüge ergeben sich sofort, andere im Nachhinein. Details wie Annas lila Stiefel tragen ebenso zu einer Kontinuität bei wie die ständig präsente Musik, die ähnlich wie das Gewitter, das weniger symbolisch daherkommt als der deutsche Titel vermuten lässt, eine Verbindung zwischen den Szenen schafft. Die Struktur des Films wird insgesamt eher durch eine musikalische als durch eine dramatische Logik bestimmt.

    „Morgen ist ein neuer Tag“, diese tröstlichen Worte sind in „Das jüngste Gewitter“ mehrere Male zu hören. Ungetrübte Lebensfreude ist in der Tat wenig zu finden in Roy Anderssons Film, selbst die Musik hat es schwer gegen mürrische Nachbarn und angesichts eines Lochs in der persönlichen Rentenkasse. Das Lamento eines Tubaspielers über die Fehlkalkulation seiner Bank mit den Lebensersparnissen wird so zum Kontrapunkt zum verzückten Stöhnen seiner eine Pickelhaube tragenden Partnerin in einer bizarren Sexszene, mit der Andersson seinen Erzählstil mit eigenwilliger Harmonie und gleichzeitiger Absurdität auf die Spitze treibt. In einigen der stärksten Momente kommt eine pessimistische Einschätzung des menschlichen Wesens ungebrochen zum Ausdruck. Ein Psychiater beklagt beredt den Egoismus seiner Patienten, in einem Gebet wird um Vergebung für Unternehmergier, Folterer, fehlurteilende Richter, lügende Regierungen und verschleiernde Medien gebeten. Bitterböse ist der Albtraum eines Mannes, der bei einem großen Fest den Tischtuchtrick probiert. Als er misslingt und das Porzellan scheppernd zerbricht, sind auf den nun freien Tischen riesige Hakenkreuze zu sehen. Beim anschließenden Prozess wird dem Mann von Richtern, die sich bei der Urteilsverkündung mit Bier zuprosten, mit lauter Zustimmung des Saalpublikums zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt. „Das jüngste Gewitter“ ist unstreitig auch eine schwarze Komödie, seine ganze Klasse besteht aber darin, dass er mehr ist als das. Das „Niemand versteht mich“, das mehrere der Figuren dem Publikum entgegen schleudern, ist in der Welt, die Roy Andersson uns zeigt ohne Zweifel wahr. Die Kraft des Lebendigen ist in ihr aber viel stärker als die Verzweiflung und fern von Zynismus.

    Roy Andersson, der nach zwei Spielfilmen in den 70er Jahren erst 1996 mit „Songs From The Second Floor“ auf die große Leinwand zurückkehrte und in der Zwischenzeit als Werbefilmer arbeitete und dann zwei Kurzfilme drehte, hat im Stockholmer Studio 24 seine eigene Produktionsstätte, die ihm ideale Bedingungen für die Umsetzung seiner Vorstellungen bietet. „Das jüngste Gewitter“ ist visuell aus einem Guss, die aufwändigen Dekors folgen in Farbe und Architektur einem klaren Muster. Andersson favorisiert gedämpfte Töne und gibt seinen Räumen immer einen Fluchtpunkt. Der Blick einen Gang hinunter, eine Theke oder eine Festtafel entlang kann sich in geschärfter Tiefe verlieren. Immer steht eine Tür offen und erweitert den Raum, so dass trotz der oft wie in einem Stillleben angeordneten Personen kein Eindruck von Enge entsteht. Obwohl es in „Das jüngste Gewitter“ nur sehr wenig Bewegung gibt, ist der Film alles andere als statisch, die erste Kamerafahrt nach etwa einer halben Stunde die Reihen eines Festbanketts hinunter erhält gerade durch diese Beschränkung eine unerhörte Wirkung. Und der Traum des Groupies Anna von der Hochzeit mit dem verehrten Rockstar wird besonders durch das Haus, das sich wie ein Zug durch die Landschaft bewegt, zu einer der schönsten Szenen des Films. Roy Andersson gelingt mit Mitteln größter Künstlichkeit ein bewegender Film zugleich einfacher und komplexer Lebendigkeit.

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