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    District 9
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    District 9
    Von Björn Becher

    Es war der Marketing-Coup des noch jungen Jahrhunderts: Als im Januar 2008 Cloverfield weltweit in den Kinos startete, war der Film längst in aller Munde. Der im Vorfeld geschickt geschürte Hype nahm Dimensionen an wie sie sonst höchstens bei Fortsetzungen oder Weiterführungen bereits etablierter Franchises zustande kommen. Die „Cloverfield“-Strategen um Produzent J.J. Abrams (serie,Alias, Star Trek) mussten ohne die Zugkraft von großen Stars auskommen und es gab auch keine populäre literarische Vorlage. Zudem war das Budget von gerade einmal 25 Millionen Dollar weit entfernt von der für vergleichbare Blockbuster üblichen Größenordnung. Doch Abrams folgte einer cleveren Taktik: Ein kleiner Teaser, der ausnahmsweise wirklich neugierig machte, gezielt übers Internet gestreute Video- und Bilderhäppchen und dazu eine strikte Geheimhaltungspolitik schürten das Interesse der immer größer und einflussreicher werdenden Online-Gemeinde. Diese Strategie diente Herr der Ringe-Regisseur Peter Jackson unverkennbar als Muster für den von ihm produzierten Science-Fiction-Film „District 9“. In verschiedenen US-Städten tauchten plötzlich rätselhafte Verbots- und Warnschilder auf, mit denen Gebiete als „nur für Menschen“ deklariert wurden, nicht-menschliche Wesen sollten sofort gemeldet werden. Dazu gab es nur einen kryptischen Verweis auf die Website des Films. Die obligatorischen Mini-Videos per Internet und ein großer Auftritt auf der Geek-Messe Nummer eins, der Comic-Con in San Diego, heizten die Neugier weiter an. Ein US-Eröffnungswochenende mit einem Einspielergebnis von 37,4 Millionen Dollar und Platz 1 der Kinocharts war die Folge. Und wie auch schon bei „Cloverfield“ war der Hype gerechtfertigt, und der fertige Film hält den Erwartungen stand. Newcomer Neill Blomkamp gelingt das Kunststück, einen erstklassigen Sci-Fi-Actioner abzuliefern, der als Unterhaltungsfilm genauso funktioniert wie als klares politisches Plädoyer.

    Vor 20 Jahren tauchte über der südafrikanischen Metropole Johannesburg ein großes Raumschiff auf. Die Aliens kamen weder in kriegerischer noch in friedlicher Absicht, sie strandeten einfach zufällig dort. Direkt unter dem Raumschiff wurde „District 9“, ein Auffanglager für die ursprünglich 1,8 Millionen Außerirdischen eingerichtet, die dort seither in erbärmlichen Verhältnissen leben müssen. In dem von einer eigens geschaffenen internationalen Organisation, der Multi-National United (MNU), verwalteten Lager herrscht Chaos und nigerianische Waffenhändler bereichern sich an den Außerirdischen. Die einstigen großen Erwartungen, die mit dem ersten Alien-Kontakt einhergingen, wurden enttäuscht, auch der von der MNU erhoffte technologische Quantensprung blieb aus. Das außerirdische Waffenarsenal ist für die Menschen aufgrund eines biomechanischen Schutzmechanismus nicht nutzbar. Zudem steigt der Hass gegenüber den mittlerweile 2,5 Millionen im Camp lebenden Aliens immer weiter. Die MNU will diese daher in ein neues Lager in der Einöde 200 Kilometer außerhalb von Johannesburg verlegen. Wikus Van De Merwe (Sharlto Copley) wird zum Leiter der Operation berufen und soll sicherstellen, dass alle Aliens über den Umzug informiert werden. Im Gegensatz zu MNU-Truppenführer Koobus Venter (David James) will er die Umsiedelung ohne jegliche Gewaltanwendung vollziehen. Doch Van De Merwe wird beim Einsatz verwundet und kommt zudem mit einer außerirdischen Flüssigkeit in Kontakt, die ihn verändert: Sein verletzter Arm mutiert zu einer Alien-Extremität, mit der Van De Merwe die explosiven Waffen der Außerirdischen bedienen kann. Um hinter sein Geheimnis zu kommen, ist der MNU jedes Mittel recht, auch der Tod des Patienten wird einkalkuliert. Doch Van De Merwe kann fliehen. Von Venter und den anderen Häschern der MNU gejagt, gibt es nur einen Ort, wo er sich verstecken kann: „District 9“.

    Einen größeren Bekanntheitsgrad in der Branche erreichte der Visual-Effects-Spezialist Neill Blomkamp ironischerweise zuerst mit einem Film, der bis heute nicht realisiert wurde. Peter Jackson wollte unbedingt, dass Blomkamp die ihm selbst angetragene Verfilmung des Kult-Videospiels „Halo“ übernimmt. Doch die Verantwortlichen der beiden beteiligten Studios bekamen kalte Füße und waren nicht bereit, einem Newcomer eines der größten Budgets der bisherigen Filmgeschichte anzuvertrauen. Obwohl der Nachwuchsregisseur mit mehreren „Halo“-Kurzfilmen und Werbespots für Teil 3 der Videospielreihe eindrucksvoll sein Talent unter Beweis stellte, winkten die Manager ab. Jackson war ohne Blomkamp nicht mehr interessiert und so befindet sich das Projekt immer noch in einem vagen Ankündigungsstadium. Blomkamp, der vorher als 3D-Animator fürs Fernsehen sowie beim Thriller Crime Is King arbeitete, hatte aber plötzlich einen Namen. Für seinen Mentor Peter Jackson war es daher kein Problem, die vergleichsweise bescheidene Summe von 30 Millionen Dollar aufzutreiben und Blomkamp das Kinodebüt zu ermöglichen. Dieser erfüllte sich damit einen Traum: Er konnte die Idee seines 2005 entstandenen Mockumentary-Kurzfilms „Alive In Jo‘Burg“ nun endlich auf die große Kinoleinwand übertragen.

    „Alive In Jo´Burg“ ist gestaltet wie eine kurze TV-Reportage über die Geschehnisse in Johannesburg in den Jahren nach der Alien-Ansiedelung. Auch „District 9“ beginnt im realistischen Stil einer vermeintlichen Dokumentation mit einem Fernsehbericht über das Schicksal von Wikus Van De Merwe. Freunde, ehemalige Kollegen und seine Frau (Vanessa Haywood) kommen zu Wort und rekapitulieren die Ereignisse, was früh ein düsteres Schicksal für den Protagonisten erahnen lässt. Dazwischen geschnitten sind Aufnahmen von Van De Merwes letztem und wichtigstem Arbeitstag, wo Blomkamp über weite Strecken die Perspektive seines Protagonisten übernimmt. Auch wenn der Wechsel von Nachrichtenstil und subjektiver Kamera, deren Einsatz im übrigen eine weitere Gemeinsamkeit mit „Cloverfield“ darstellt, nicht konsequent durchgehalten und beispielsweise die Flucht Van De Merwes konventionell aufgelöst wird, bleibt der anfangs erzeugte Eindruck von Unmittelbarkeit und Echtheit über die gesamte Dauer erhalten. Die geschilderten Geschehnisse wirken ungemein real.

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    Das bisherige Schaffen von Neill Blomkamp:

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    Dass „District 9“ gerade einmal einen Bruchteil der von anderen Sci-Fi-Action-Produktionen wie Krieg der Welten verschlungenen Budgets gekostet hat, sorgt für ein ungläubiges Staunen. So wurden die als „Prawns“ bezeichneten Aliens zwar größtenteils am Computer animiert, doch ihre Herkunft aus dem Rechner ist an fast keiner Stelle zu merken. Sie fügen sich vielmehr perfekt in die Umgebung ein. Selbst bei der Action müssen keine Abstriche gemacht werden. Wenn plötzlich ein Riesenroboter auftaucht, der wilde Schießereien, Explosionen und pures Chaos auslöst, sieht das immer noch 1a aus. „District 9“ wirkt sogar um ein Vielfaches körperlicher und damit intensiver als beispielsweise Transformers 2. Während Michael Bay ein perfektes und glattes Action-CGI-Feuerwerk zur gemütlichen Betrachtung auf der Kinoleinwand zündet, ist es bei Blomkamp geradezu physisch spürbar, wenn es immer wieder rummst und kracht. Allerdings kostet der Regisseur dies viel zu lang aus und verzettelt sich gegen Ende in einer Materialschlacht. Schließlich stellen sich auch bei „District 9“ für das Blockbuster-Kino nicht untypische Abnutzungserscheinungen ein, zumal Blomkamp ausschließlich altbekannte Kniffe nutzt, um die Action künstlich um ein paar Minuten zu verlängern. Dass er dies gar nicht nötig hat, beweist er eindrucksvoll vor dem Finale. Dort ist der Erzählton noch deutlich ruhiger, eine als Reminiszenz an Terminator 2 gestaltete kleine Actionszene etwa ist großartig gelungen. Selbst der coole, an Arnold Schwarzeneeger, angelehnte Oneliner eines der „Prawns“ wirkt da nicht störend. Aber um keinen falschen Eindruck zu erwecken: „District 9“ ist keine Mainstream-Unterhaltung und kein Familienkino. Dafür ist die Atmosphäre zu dreckig-depressiv und es platzen zu viele Menschenschädel.

    „District 9“ basiert auf den Erfahrungen des Regisseurs mit der Apartheidpolitik in Südafrika während seiner Kindheit. Diesem noch heute brisanten politischen Subtext verleiht Blomkamp ungeschönt und in aller Deutlichkeit Nachdruck. Die wie Vieh eingepferchten „Prawns“ leben in „District 9“ unter ähnlich schlimmen Bedingungen wie die schwarze Bevölkerung in den „Townships“ von Südafrika während der Herrschaft der weißen Minderheit. Teilweise haben sich die sozialen Verhältnisse bis heute nicht entscheidend gebessert. Der Filmtitel verweist zudem nicht zufällig auf den realen Armenbezirk „District 6“ in Johannesburg, der in den 60er- und 80er Jahren zum Schauplatz grausamer Ereignisse wurde. Auch für die das Camp beherrschenden brutalen Waffenhändlerbanden, die die leidenden Aliens gnadenlos ausnutzen, stand die bittere Realität Pate. Um einen hohen Authentizitätsfaktor zu erreichen, drehte Blomkamp große Teile des Films sogar in realen südafrikanischen Slums. Ihre ganze Wucht erhalten diese Aufnahmen aber erst durch die Konfrontation mit dem zynischen Gehabe der Offiziellen, in deren Augen die sich stetig vermehrenden Außerirdischen reine Versuchskaninchen sind. Sie nehmen sie als Objekte wahr, die den technischen Fortschritt der Menschheit beschleunigen können. Blomkamp verstärkt die Rückkopplung an die von Armut und Ausbeutung geprägte Wirklichkeit noch, indem er bei der Motivation der Aliens neue Wege geht. Sie wollen weder die Erde erobern, noch friedlich mit den Menschen Kontakt aufnehmen. Sie sind schlicht gestrandet und sie wollen eigentlich einfach nur wieder weg. Der im Film benutzte Begriff der „illegal aliens“ ist dabei natürlich doppeldeutig, denn so lautet auch die offizielle Bezeichnung für „illegale Einwanderer“.

    Dass sich „District 9“ bisweilen weniger wie ein Spielfilm, sondern mehr wie eine Reportage, wie ungefilterte Realität anfühlt, ist auch eine Folge des Castings. Statt auf Stars wurde auf unbekannte Gesichter gesetzt, die Hauptfigur wird gar von einem Jugendfreund des Regisseurs gespielt. Sharlton Copley ist zwar auch im Filmgeschäft tätig, arbeitet aber eigentlich als Produzent sowie als Regisseur von Kurzfilmen, Werbe- und Videoclips. Schon bei „Alive In Jo‘Burg“ gab er ein kurzes Gastspiel vor der Kamera, dass so überzeugend ausfiel, dass er nun die Hauptrolle bekam. Und er erweist sich als ideale Wahl. Van Der Merwe ist ein netter, aber auch leicht einfältiger Bürokrat, der zunächst gar nicht weiß, wie ihm geschieht. Er wird weniger wegen seiner Fähigkeiten befördert, sondern mehr wegen seines ruhigen Gemüts und vor allem, weil sein Schwiegervater Piet Smit (Louis Minnaar) ein hohes Tier bei der MNU ist. In Van Der Merwe wird die klassische Figur des so lange bis er schließlich zurückschlägt in die Ecke gedrängten kleinen Mannes variiert. Es ist beeindruckend, mit welcher scheinbaren Leichtigkeit Copley die gegensätzlichen Seiten des Charakters und seine Wandlung zum Kämpfer glaubhaft macht. Die Entscheidung für einen No-Name-Cast aus Freunden und Weggefährten des Regisseurs, erfahrenen südafrikanischen TV-Schauspielern wie David James als Gesicht der Jäger und etwas Eye-Candy in Gestalt von Model Vanessa Haywood als Ehefrau des Gejagten ist letztlich keine Schwäche, sondern vielmehr eine weitere Stärke des Films.

    Fazit: Was 2008 „Cloverfield“ war, ist in diesem Jahr „District 9“. Der einzige große Name ist bei den Produzenten zu finden und alle Versatzstücke sind längst bekannt. Doch Regisseur Neill Blomkamp überzeugt mit einem individuellen Zugriff auf seine Themen, die er mit politischem Zündstoff unterfüttert. Dazu sieht sein Film schlicht gut aus und ist hochspannend. Leider ist Blomkamp im Finale der Versuchung erlegen, die Action-Spirale immer weiter zu drehen und hat es damit etwas übertrieben. Weniger wäre hier mal wieder mehr gewesen. Aber auch so ist „District 9“ eine der großen Überraschungen des Jahres, für die ein Kinobesuch unbedingt eingeplant werden sollte.

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