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    Selma
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Selma
    Von Andreas Staben

    „Selma“ wurde für zwei Oscars 2014 nominiert: einmal für den kämpferischen Song „Glory“, der während des Abspanns zu hören ist, und dann noch für den wichtigsten Preis überhaupt, die Auszeichnung als Bester Film des Jahres. Diese Ehrung wurde indes in vielen US-Medien nicht gefeiert, sondern kritisiert. Der Tenor: Ava DuVernays Politdrama über Martin Luther Kings Kampf für das Wahlrecht der Schwarzen hätte noch viel mehr Nominierungen erhalten müssen. Besonders der Umstand, dass es die Filmemacherin selber (sie wäre die erste schwarze Frau überhaupt im Rennen um den Regie-Oscar gewesen) und Hauptdarsteller David Oyelowo nicht in die Endauswahl geschafft haben, wurde als Indiz für einen latenten Rassismus in Hollywood gesehen. Wer dem entgegenhielt, dass die Oscar-Academy doch erst im vergangenen Jahr Steve McQueens Sklaverei-Drama „12 Years a Slave“ mit dem Hauptpreis bedacht habe, bekam womöglich etwas vom „weißen schlechten Gewissen“ zu hören, das für jene Wahl ausschlaggebend gewesen sei. Wie so oft in solchen Fällen hat sich die Diskussion bald verselbständigt, die schon vor Weihnachten mit einer Kontroverse um die historische Rolle von Präsident Johnson begann, und „Selma“ selbst geriet ein bisschen aus dem Fokus. Er ist nüchtern betrachtet kein Meisterwerk, aber ein sehenswerter Film über ein wichtiges Kapitel der amerikanischen Zeitgeschichte ist er allemal – nicht mehr und nicht weniger.

    Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. (David Oyelowo) hat gerade den Friedensnobelpreis 1964 erhalten. Mit der offiziellen Abschaffung der Rassentrennung im Civil Rights Act hat er ein wichtiges Etappenziel erreicht, aber der Kampf ist noch lange nicht zu Ende. Als nächstes gilt es, das Wahlrecht für Schwarze faktisch und flächendeckend durchzusetzen. Seine Gespräche mit Präsident Lyndon B. Johnson (Tom Wilkinson) im Weißen Haus bringen keinen Fortschritt, also organisiert King Demonstrationen in der Stadt Selma in Alabama. Als dabei ein junger Mann von Polizisten getötet wird, brechen King und tausende Gleichgesinnte zu einem friedlichen Marsch in Richtung der Hauptstadt Montgomery auf. Der Protest soll bis zum Amtssitz des Gouverneurs George Wallace (Tim Roth) getragen werden. Aber bereits hinter der Stadtgrenze von Selma auf der Edmund-Pettus-Brücke wartet die Polizei auf die Marschierenden. Die Situation eskaliert, die Cops setzen Knüppel und Tränengas ein. Aber King gibt nicht auf und plant einen zweiten Versuch…

    Am Anfang von „Selma“ stehen vier kurze Szenen, die alle eine unterschiedliche Facette des Films zeigen: Martin Luther King bindet vor der Nobelpreisverleihung seine Krawatte und redet mit seiner Frau Coretta (Carmen Ejogo) darüber, wie sich die Situation anfühlt; er nimmt die Auszeichnung entgegen und hält eine Rede; Annie Lee Cooper (Oprah Winfrey) will sich in Selma in die Wählerliste eintragen lassen, ihr Antrag wird aber unter fadenscheinigem Vorwand abgelehnt; in Birmingham explodiert in einer Kirche eine Bombe und vier kleine Mädchen werden getötet. Regisseurin Ava DuVernay („Middle of Nowhere“) umreißt hier in wenigen Minuten ein enormes Spektrum von Themen und Ansätzen. Mit den Zeitlupenbildern des traumatischen Bombenanschlags zeigt sie emblematisch, wie gefährlich die Lage war, und mit dem unsäglichen Verhalten des Beamten gegenüber der Bittstellerin werden die Schikanen gegen die Schwarzen veranschaulicht (in Alabama waren nur wenige Tausende Angehörige der schwarzen Bevölkerungsmehrheit als Wähler eingetragen, weil nur Steuerzahler zugelassen wurden und weitere systematische Einschränkungen stattfanden).

    So prägnant diese Einleitung auch ist, in ihr werden ausschließlich Hintergründe etabliert. Der Privatmann King spielt hingegen nur eine Nebenrolle (obwohl die Szene, in der seine Frau ein FBI-Tonband anhört und dabei von seiner Untreue erfährt, eine der emotionalsten des oft eher nüchternen Films ist). Und auch der begnadete Redner steht nicht so sehr im Mittelpunkt, was wiederum dem Umstand geschuldet sein mag, dass die Erben Kings die Rechte an den Reden nicht freigegeben haben, sodass etwa aus dem berühmten „Give us the ballot!“ ein „Give us the vote!“ werden musste. Das rhetorische Geschick des Bürgerrechtlers ist dafür auf einer anderen Ebene umso wichtiger. Ähnlich wie Steven Spielberg in „Lincoln“ konzentriert sich Ava DuVernay nämlich auf die politischen Prozesse hinter den Kulissen. Hier wird argumentiert und diskutiert und gerade die internen Auseinandersetzungen bei den Bürgerrechtlern - inklusive eines Kurzauftritts von Malcolm X - sind dabei äußerst lebendig und aufschlussreich gestaltet. Demgegenüber bleiben insbesondere die Washington-Szenen seltsam blutleer. Hier vermittelt sich kaum etwas von dem Druck, dem die Handelnden ausgesetzt waren - und wenn der Präsident schließlich den Voting Rights Act verkündet, dann hat man von seiner Entscheidungsfindung wenig mitbekommen und auch Kings Gedanken dazu bleiben ein Rätsel: Er sieht Johnsons Rede lediglich im Fernsehen und lässt sich nichts anmerken.

    Die Verknüpfung des Politischen mit dem Persönlichen, des Abstrakten mit dem Konkreten gelingt meist nicht ganz überzeugend. So wirken letztlich auch die Darsteller in einigen Szenen sehr unterkühlt (Oyelowo), orientierungslos (Wilkinson) oder einseitig (Roth). Ein klarer Fokus fehlt, aber gleichzeitig hat der Film der Masse von Nebenfiguren (und Randthemen) auch seine stärksten Momente zu verdanken. Manchmal sind sie nur in ein oder zwei Szenen zu sehen so wie der weiße Priester, der sich den Protesten anschließt, manchmal auch etwas öfter wie die studentischen Aktivisten in Selma. Aber am Ende lässt sich an ihnen die Komplexität der Sach- und Gefühlslage viel besser ablesen als an King und den Politikern. DuVernay inszeniert all das ohne feierliche Emphase und ohne reißerische Exzesse, dabei durchaus klar, schonungslos und wirkungsbewusst. Und wenn nach einem fürchterlichen Gewaltausbruch, der natürlich auch Gedanken an Ferguson und andere aktuelle Geschehnisse hervorruft, beharrlich weitere friedliche Anläufe unternommen werden, etwas zu ändern, dann ist „Selma“ tatsächlich mehr als nur ein x-beliebiger Historienfilm mit deutlichen Schwächen. Dann ist er ein emotionales Mahnmal.

    Fazit: Oft sehr bewegender, aber unfokussierter Blick hinter die Kulissen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King.

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