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    Sergej in der Urne
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Sergej in der Urne
    Von Fabian Speitkamp

    Von seinem Großonkel erfährt der Filmemacher Boris Hars-Tschachotin ganz nebenbei, dass die Asche seines berühmt-berüchtigten Urgroßvaters Sergej Tschachotin (1883-1973) seit 30 Jahren auf einem Schrank in Paris steht und auf ihre testamentarisch vorgesehene Bestattung in korsischer Erde wartet. Schnell steht sein Entschluss: Er will seinem Ahnen die letzte Ehre erweisen. Dabei dämmert ihm jedoch, dass er zuerst dessen Geschichte ausgraben und mit seinen Verwandten aufarbeiten muss, bevor er den Verblichenen eingraben kann. „Sergej in der Urne" ist das filmische Dokument dieser Aufarbeitung - eine Reise durch ein Jahrhundert voller dramatischer politischer Ereignisse und wissenschaftlicher Durchbrüche sowie durch die Beziehungen zu nicht weniger als fünf Ehefrauen. Das ist über weite Strecken sehr interessant, viele der zahlreichen spannenden Themen werden aber jeweils bloß angetippt. So bleibt der Film ein facettenreiches, dabei aber zugleich überfrachtetes Gemälde russischer und sowjetischer Geschichte.

    Gleich zu Beginn seiner Dreharbeiten muss Hars-Tschachotin feststellen, dass die direkten Nachkommen Sergejs nicht mehr miteinander sprechen. Jeder behauptet zwar von sich, die beste Lösung für das Urnenproblem parat zu haben, jedoch verweigern alle den Dialog. So macht sich der Filmemacher auf, vier der insgesamt acht Kinder Sergejs persönlich zu besuchen, um zu vermitteln und dem Urgroßvater einen Schritt näherzukommen. In seinem dokumentarischen Reisebericht „Sergej in der Urne" wechselt er dabei recht konventionell zwischen Interviews, eigenen Gedankengängen und vom deutschen Schauspieler Ulrich Matthes („Der Untergang") vorgetragenen Tagebucheinträgen Sergejs, die meist von alten Film- und Fotoaufnahmen des Familienoberhaupts begleitet und durch den stimmungsvollen Soundtrack passend ergänzt werden.

    Das Ergebnis von Hars-Tschachotins Recherchen ist eine Art Mosaik, das interessante Geschichten vereint und von weitem ein schillerndes Bild von Sergej Tschachotin zeichnet – das eines Mannes, der seinen Mikrobiologenberuf, die Politik und seine Familie allesamt unter einen Hut bringen wollte und dabei letztlich vor allen bei und an seinen Liebsten scheiterte. Als Leidtragende des missglückten Spagats werden die verbliebenen Söhne Eugen, Petja, Andrej und Wenja dargestellt. In ihren Aussagen spiegeln sich Bewunderung und Enttäuschung über den Vater, der niemals stillstand und seine Energie nie auf etwas fokussieren konnte.

    Damit ging es Sergej ähnlich wie Hars-Tschachotin mit seinem Doku- und Aufarbeitungsprojekt heute. Auch der Filmemacher versucht sich an einem Spagat zwischen Familien- und Politikgeschichte sowie einem Porträt des Wissenschaftlers Sergej Tschachotin. Die schiere Anzahl der hier abgedeckten Ereignisse sprengt jedoch schlichtweg jeden Filmrahmen – einige Aspekte kommen so deutlich zu kurz. Gerade in den Gesprächen zwischen Wenja und seinem Neffen Boris schimmert durch, dass der Mann zutiefst von seinem Vater enttäuscht wurde, aber es gelingt dem Regisseur nicht, sein Gegenüber aus der Reserve zu locken. Schließlich bricht Wenja das Interview ganz ab – warum er früher so viel positiver über Sergej gesprochen hat und worin der Bruch bestand, bleibt unklar.

    Fazit: „Sergej in der Urne" ist eine vielseitige Collage aus Archivbildern und Gesprächen, die allerdings gelegentlich die Zielrichtung verlieren. Wer Spaß an der eigenständigen Ausdeutung bruchstückhaft dargelegter Konflikte mit historischem Hintergrund hat, wird mit Boris Hars-Tschachotins Versuch einer familiären Vergangenheitsbewältigung aber gut bedient.

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