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    Die Taube auf dem Dach
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Die Taube auf dem Dach
    Von Sascha Westphal

    Im Winter 1971/72 zeichnete sich mit einmal in der DDR ein ganz besonderes Tauwetter ab. Die Prognosen versprachen einen wundervollen Frühling, der die Chance einer einmaligen Blüte mit sich bringen würde. Diese Hoffnungen weckte zumindest eine Rede, die Erich Honecker auf dem vierten Plenum des ZK der SED am 16. und 17. Dezember 1971 gehalten hat. In ihr hieß es unter anderem, dass es „auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben" könne und dass die Partei gedenke, „die Künstler mit dem ganzen Reichtum ihrer Handschriften und Ausdrucksweisen auf die Fülle der Lebensäußerungen unserer Zeit [zu] orientieren." Dies musste sich eine Filmemacherin wie Iris Gusner, die an der Filmhochschule in Moskau studiert hatte und nun der Spielfilm-Abteilung der DEFA angehörte, nicht zweimal sagen lassen. Doch diese Zeit der Offenheit und Freiheit blieb ein Versprechen, das nie wirklich eingelöst wurde. Als im April 1973 die Arbeit an ihrem Debüt, dem analytischen Dreiecksdrama „Die Taube auf dem Dach", abgeschlossen war, hatte sich das Klima wieder deutlich abgekühlt. Nun galt ihr Film über drei äußerst verschiedene Menschen, die auf einer Großbaustelle am Rande einer kleineren Stadt arbeiten, als ein „Angriff auf die DDR". Es wurde ihr sogar vorgeworfen, sie habe „der Arbeiterklasse ins Gesicht gespuckt".

    Für die Bauingenieurin Linda Hinrichs (Heidemarie Wenzel, „Das Licht auf dem Galgen", „Insel der Schwäne") gibt es nichts als ihre Arbeit. Als Bauleiterin eines riesigen Siedlungsprojekts hat die junge Frau derart viele Verpflichtungen, dass ihr für etwas anderes auch kaum Zeit bleibt. Tag für Tag gibt es neue Probleme mit den Arbeitern oder mit den Baumaterialien. Ständig fehlt etwas, und dann muss sie all ihren Charme einsetzen, um auch einmal die offiziellen Kanäle zu umgehen. Mit ihrer direkten, zupackenden Art und ihrem unbestechlichen Sinn für das Wesentliche bezaubert sie gleich zwei Männer auf der Baustelle, den erfahrenen Brigadier Hans Böwe (Günter Naumann, „Fünf Patronenhülsen", „Königskinder") und den idealistischen Studenten Daniel (Andreas Gripp). Während Böwe, der seit Jahrzehnten von einer Baustelle zur nächsten zieht und dabei seine Familie verloren hat, Linda schließlich sogar einen Antrag macht, lässt sich Daniel von ihr zunächst einmal nur mitreißen. Doch die Affäre, die zwischen ihnen beginnt, reicht ihm bald nicht mehr.

    „Die Taube auf dem Dach" wurde anders als Frank Beyers „Spur der Steine", Kurt Matzigs „Das Kaninchen bin ich" oder Frank VogelsDenk bloß nicht, ich heule ", die alle der ersten großen Verbotswelle in den Jahren 1965/66 zum Opfer gefallen und im Staatlichen Filmarchiv der DDR verschwunden sind, nicht offiziell verboten. Er wurde einfach nicht für den Verleih freigegeben. Zudem wurde das Filmmaterial im Studio vernichtet. Als 1989/90 die einstigen Verbotsfilme nach und nach restauriert wurden, fand Iris Gusners Kameramann Roland Gräf eher zufällig eine farbige Arbeitskopie des Film in einer Ecke eines nicht klimatisierten Vorführraums.

    Diese Kopie war damals der Vernichtung entgangen, weil auf ihrem Karton noch „Daniel", der erste Arbeitstitel des Films, stand. Allerdings war das Material so stark beschädigt, dass keine weiteren Farbkopien von ihm gezogen werden konnten. Also wurde ein schwarzweißes Dup-Negativ erstellt. Von ihm wurde dann 1990 eine Kinokopie hergestellt, die zwei Mal vorgeführt wurde. Danach verlor sich die Spur des Films wieder. Erst 2009 wurde eben dieses Dup-Negativ wieder entdeckt, so dass Iris Gusners Erstling nun restauriert werden konnte und nach mehr als 37 Jahren endlich, wenn auch nur in einer Schwarzweiß-Version, in die Kinos kommt.

    So tragisch der Verlust der Farbversion des Films auch ist – und das ist er ohne jeden Zweifel, schließlich waren seine Farben ein integraler Bestandteil von Iris Gusners ästhetischem Konzept –, ändert das nichts daran, dass „Die Taube auf dem Dach" in Schwarzweiß einen ganz eigenen Reiz entwickelt. Die etwas spröden Bilder, die nicht nur kundige Kinoliebhaber sofort mit den zahlreichen Neuen Wellen der 60er und frühen 70er Jahre assoziieren werden, passen perfekt zu Gusners distanziertem Ton. Ihre exakt komponierten Halbtotalen und Halbnah-Einstellungen, die immer ein wenig auf Abstand zu den Figuren bleiben und eine neutrale Beobachterposition suggerieren, sind dabei genauso typisch für die europäische Film-Moderne wie die fragmentarische Erzählweise.

    Iris Gusner zerlegt die in Ansätzen melodramatische Dreiecksgeschichte ihrer Protagonisten in kleine Szenen und Vignetten. Dass sich dabei längst nicht alle Teile bruchlos zusammenfügen, versteht sich von selbst. Schließlich war auch die Wirklichkeit, von der sie aus einer kritischen, aber durchaus linken, die sozialistische Utopie eben nicht negierenden Perspektive erzählt, in diesen Jahren schon im Begriff des Zersplitterns. Wie zehn oder fünfzehn Jahre zuvor Heiner Müller und Peter Hacks, die in ihren Stücken aus der Produktion die Realität der DDR an deren Idealen gemessen haben, wagte auch Iris Gusner eine schonungslose Bestandsaufnahme, die einen Moment in der deutschen Nachkriegsgeschichte schlaglichtartig ausleuchtet. Ihr bitterer Befund passte den Mächtigen nicht ins Konzept, wie das eben meist so ist. Also haben sie sich die größte Mühe gegeben, ihn zu unterdrücken. Doch selbst heute, im zwanzigsten Jahr der Wiedervereinigung, hat dieses Porträt dreier Arbeiter, die an der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität nach und nach zerbrechen, die Arbeit und Leben einfach nicht in Einklang bringen können, nichts von seiner zeitlosen, alle ideologischen Systeme transzendierenden Eindringlichkeit verloren.

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