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    Alois Nebel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Alois Nebel
    Von Katharina Granzin

    In kontrastreicher Schwarz-Weiß-Optik erzählt Tomás Lunák in seinem preisgekrönten tschechischen Animationsfilm „Alois Nebel“ eine Geschichte aus dem Sudetenland. Schon lange bevor ein Film daraus wurde, war „Alois Nebel“ als Comic Kult in Tschechien. Vor über zehn Jahren veröffentlichten der Autor Jaroslav Rudiš und der Zeichner Jaromír 99 den ersten Teil ihrer dreiteiligen Graphic Novel um den schweigsamen Bahnwärter Alois Nebel. Die populäre Trilogie trug viel dazu bei, die öffentliche Diskussion über das Schicksal der vertriebenen Deutschen, die früher in den tschechischen Randgebieten wohnten, wieder neu zu beleben. Der auf Basis der Comics entstandene Animationsfilm gewann 2012 den Europäischen Filmpreis in der Kategorie „bester Animationsfilm“. Ganz sicher keine unverdiente Auszeichnung: „Alois Nebel“ ist ästhetisch herausragend, und auch die Absicht, mit popkulturellen Mitteln ein unliebsames Kapitel der Geschichte wieder ins Bewusstsein zu rufen, ist ein Verdienst der Macher. Das extreme Schwarz-Weiß, das die gezeichnete Ästhetik des Films kennzeichnet, ist allerdings auch ein Merkmal der Geschichte, die erzählt wird.

    Der bescheidene Alois Nebel (Miroslav Krobot) ist Bahnwärter im winzigen Ort Bílý Potok (deutsch: Weißbach) im tschechischen Jeseník (Altvatergebirge) nahe der polnischen Grenze. Vor der Annexion Böhmens und Mährens durch Hitler lebten in der Gegend, die zum Sudetenland zählte, Deutsche und Tschechen friedlich miteinander. Bis die ersten nach dem Krieg gewaltsam vertrieben wurden, hatte auch der kleine Alois deutsche Freunde und wurde von der jungen Deutschen Dorothee mehr oder weniger aufgezogen. Dass mit Dorothee (Tereza Voriskova) etwas Schreckliches passiert ist, hat der nun erwachsene Nebel als traumatische Erfahrung in einen hinteren Winkel seines Bewusstseins verdrängt. Doch im Jahr 1989 geschieht etwas, wodurch das Trauma wieder auflebt. Ein Mann (Karel Roden), der illegal über die Grenze gekommen ist, wird am Bahnhof aufgegriffen und gewaltsam festgesetzt. Da der Unbekannte nicht spricht, landet er in der Psychiatrie – wohin es auch Nebel verschlägt, bei dem das Erlebnis sein altes Trauma wieder freisetzt. Er erleidet einen Nervenzusammenbruch, wird – erfolglos – mit Elektroschocks behandelt und verliert bei der Rückkehr aus der Psychiatrie seine Arbeit. Während der finstere Schieber Wachek (Leos Noha) und dessen Vater (Aloïs Švehlík) die Herrschaft über den Bahnhof übernehmen, fährt Nebel nach Prag, um seine Wiedereinsetzung zu erbitten. Stattdessen lernt er die Klofrau Květa (Marie Ludvikova) kennen; und erstmals scheint auch für Nebel so etwas wie Glück möglich zu sein. Doch noch ist das Unrecht der Vergangenheit nicht gerächt….

    „Alois Nebel“ wurde im Rotoskopie-Verfahren hergestellt, bei dem reale Filmszenen – mit realen Schauspielern gedreht – von hinten auf eine Glasscheibe projiziert und Bild für Bild abgezeichnet werden. Die Methode wurde unter anderem auch beim Disney-Film „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ und von Alfred Hitchcock für „Die Vögel“ eingesetzt. Sie ermöglicht eine stark realistische Anmutung bei der Zeichnung der Charaktere. Der ästhetische Effekt in „Alois Nebel“ ist frappierend und faszinierend – über weite Strecken wirkt es wirklich so, als würde man einen Realfilm durch einen riesigen Photoshop-Filter laufen lassen. Bei der Geschichte verfuhr man allerdings nicht mit einem ähnlichen hohen Aufwand wie bei diesem inszenatorischen Verfahren. Diese wird stattdessen mit recht plakativen Mitteln erzählt. Die Figuren sind, ganz abgesehen von der Optik, ziemlich holzschnittartig ausgearbeitet: Gut und Böse sind, ganz wie das Schwarz und Weiß der Zeichnungen, klar definiert und säuberlich voneinander getrennt. Das macht die Personen wenig interessant, wenngleich es etwas erfrischend Kühnes hat, sich einem geschichtlich so belasteten, komplexen Thema derart unerschrocken zu nähern. Die politischen Implikationen gehen dadurch aber längst nicht so unter die Haut. Dafür fallen trotz der außergewöhnlichen Ästhetik, die narrativen Schwächen einfach zu sehr auf.

    Fazit: „Alois Nebel“ ist ein technisch brillanter Animationsfilm über ein brisantes geschichtliches Thema: die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus dem tschechischen Sudetenland. Erzählerisch ist Regisseur Tomás Lunák zwar nicht immer auf der Höhe seines komplexen Themas, aber das Ergebnis ist trotzdem unbedingt sehenswert.

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