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    Totem
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Totem
    Von Lars-Christian Daniels

    Wenn es der Abschlussfilm einer Münchener Filmstudentin 2011 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig als einziger deutscher Beitrag ins offizielle Festivalprogramm schafft, dann spricht das zwar nicht gerade für die Kreativität der deutschen Filmemacher allgemein, ganz sicher aber für die verantwortliche Regisseurin: Die gebürtige Berlinerin Jessica Krummacher, Diplomandin der Hochschule für Fernsehen und Film München, realisierte 2009 mit weniger als 30.000 Euro den Low-Budget-Film „Totem", der es nach der Premiere am Lido auch in die Auswahl der Viennale und des Rotterdamer Filmfestivals schaffte. Und nach der deutschen Erstaufführung im Rahmen der Max-Ophüls-Preisverleihung in Saarbrücken ist dem halbdokumentarischen Familiendrama nun erfreulicherweise auch ein bundesweiter Kinostart vergönnt: „Totem" – das sind 86 Minuten pure Intensität, mit der Krummacher ein beeindruckendes Langfilmdebüt feiert und sich für größere Leinwandprojekte empfiehlt.

    Ein Reiheneckhaus mit Garten, mitten im Ruhrgebiet: Der Alltag von Familie Bauer ist schon lange kein glücklicher mehr. Vater Wolfgang (Benno Ifland) kippt ein Bier nach dem nächsten, seine psychisch labile Ehefrau Claudia (Natja Brunckhorst) verlässt kaum mehr das Haus. Dreikäsehoch Jürgen (Cedric Koch) erweist sich als zunehmend aufmüpfig, während seine große Schwester Nicole (Alissa Wilms) fast nur noch Augen für ihren doppelt so alten Freund Ulli (Fritz Fenne) hat. Sie alle leben ihr eigenes Leben und beschränken die Kommunikation im Hause Bauer auf das Nötigste. Die selten aufkommende Gemütlichkeit endet schnell in Verkrampfung. Mitten in diese gelebte Einsamkeit stößt die junge Haushaltshilfe Fiona (Marina Frenk), die nicht nur dreckige Teller spülen und schmutzige Wäsche waschen, sondern vor allem den emotionalen Müll aufkehren muss...

    Kinodebütantin Jessica Krummacher wählt für „Totem" einen Stil, der ein wenig an ihren deutschen Kollegen Andreas Dresen („Wolke Neun", „Halt auf freier Strecke") erinnert: Die Kamera nimmt nie mehr als eine neutrale Beobachterperspektive ein und suggeriert damit einen dokumentarischen Charakter. Künstliche Set-Beleuchtung ist nicht wahrnehmbar, die Schnitte werden knallhart gesetzt. Krummacher fängt den Ruhrpott von seiner hässlichen Seite ein, setzt bei den Außendrehs häufig auf graue Betonkulissen und zeigt die einsame Fiona bei ausgedehnten Spaziergängen an lauten Hauptverkehrsstraßen und in düsteren Bahnunterführungen.

    Auf begleitende Filmmusik verzichtet die Berliner Filmemacherin komplett – stattdessen lässt sie die tristen Bilder, die selbst bei herrlichstem Sonnenschein im heimischen Garten der Bauers nicht den Hauch von Wärme ausstrahlen, ebenso für sich sprechen wie das reduzierte Mienenspiel ihrer Darsteller. Aus dieser durch die Bank überzeugenden Besetzung stößt neben der gelernten Theaterschauspielerin Marina Frenk vor allem Natja Brunckhorst, mit schlecht blondierter Kurzhaarfrisur als einstige „Christiane F." aus Uli Edels gleichnamigen Drogendrama kaum wiederzuerkennen, heraus: Die von ihr verkörperte Claudia entpuppt sich auch deswegen als vielschichtigste Figur in „Totem", weil ihr frustriertes Dahinvegetieren durch die Ankunft der Haushaltshilfe zunehmend aus den Fugen gerät.

    Fiona wird nicht nur zum willkommenen Ventil, sondern zugleich zur unfreiwilligen Zielscheibe. Dass die junge Frau die Anfeindungen wortlos erträgt, der ruppigen Claudia gar die Schulter zum Anlehnen anbietet und sich erst spät gegen körperliche Misshandlungen auflehnt, lässt zwar erahnen, mit welchen Absichten das Waisenkind sich bei den Bauers einquartiert, verstört aber dennoch bis zum tragischen Finale. Die gleichgültige Mimik der Haushaltshilfe, als sich der aufbrausende Wolfgang an ihr vergreift, ist nur die Vorstufe zu einem beklemmenden, in jeder Hinsicht konsequenten Schlussakkord: Krummacher verzichtet auf jede künstliche Theatralik und lässt den Zuschauer beim Abspann schlichtweg hilflos zurück.

    Fazit: „Totem" ist nicht nur ein mit minimalen Mitteln inszeniertes, authentisches Familiendrama, sondern zugleich eine eindringliche Charakterstudie, mit der die junge Filmmacherin Jessica Krummacher eine beeindruckende Visitenkarte abgibt.

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