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    Wo stehst du?
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Wo stehst du?
    Von Robert Cherkowski

    Langzeit-Dokumentationen – also Filmprojekte, mit denen Personen oder Orte über einen längeren Zeitraum und oft in mehreren über die Jahre verteilten Phasen begleitet werden – haben besonders im deutschen Fernsehen eine große Tradition. Langsam setzt sich die Langzeit-Methode nun auch auf der Leinwand durch. Bevor sich beispielsweise Andres Veiel mit „Wer wenn nicht wir?" dem Spielfilm widmete, hat er mit „Die Spielwütigen" den Werdegang einer Gruppe von Schauspielschülern über die gesamte Studiendauer nachgezeichnet. Andreas Dresen („Halt auf freier Strecke") hat den CDU-Hinterbänkler Hendryk Wichmann ins Zentrum zweier Dokumentationen („Herr Wichmann von der CDU" und „Herr Wichmann aus der dritten Reihe") gerückt, die im Abstand mehrerer Jahre entstanden. Auch Regisseurin Bettina Braun geht seit nunmehr acht Jahren konsequent diesen Weg. Nach einer Kino-Doku und einer TV-Doku über vier Kölner Jungs mit Migrationshintergrund nimmt sie ihre Protagonisten Ali, Moussa, Alban und Kais als nun Erwachsene erneut in den Blick. Ihrem Stil und der Nähe zu den jungen Männern ist sie auch bei „Wo stehst du?" treugeblieben und so ist auch dieser dritte Teil ihres Langzeitporträts ein eindringlicher Dokumentarfilm, der zwischen den Zeilen einiges über das Leben und das Heranwachsen in Deutschland aussagt.

    Zwei Mal besuchte Braun die vier Kölner Kais, Moussa, Ertan und Alban bereits – daraus wurde 2004 „Was lebst du?" und 2008 „Was du willst". Für „Wo stehst du?" ist sie bis zum Sommer 2011 ein drittes Mal mit dem Quartett unterwegs gewesen. Die Kids von einst sind flügge geworden und müssen sich nun den Herausforderungen des Erwachsenseins stellen. Auch wenn ihre alte Lebensfreude immer wieder durchscheint, ist klar: Der Ernst des Lebens ist voll über sie hereingebrochen. Ali schlägt sich mit kleinen Jobs durch, sieht jedoch keine Karriere-Perspektive. Außerdem muss er sich nach einer Schlägerei mit Polizeibeamten mit einer Klage auseinandersetzen. Den stillen Alban hat es noch schwerer erwischt. Seine Eltern sind mit seinem Lebenswandel nicht zufrieden und haben ihn aus der Wohnung geschmissen. Er schläft bei Freunden auf der Couch und hat Schulden bei den falschen Leuten. Antriebslos fristet er sein Dasein und blüht nur auf, wenn er mit Freunden seiner Rap-Leidenschaft frönen kann. Moussa sucht unterdessen nach einer Ausbildungsstelle, wird jedoch nirgends fündig und flüchtet sich immer mehr in den islamischen Glauben – Erfolgsgeschichten sehen anders aus.

    Einzig für Kais scheint es bergauf zu gehen. In einer Schauspielschule ist es ihm gelungen, seine Lebenswut in den Dienst einer Sache zu stellen und sich von seinem Milieu zu lösen, ohne darüber seinen prolligen Charme einzubüßen. Ein wenig peinlich sind ihm die Ausbildungsübungen schon, besonders wenn er dabei gefilmt wird. Auf der Bühne jedoch blüht er auf, merkt man ihm an, wie wichtig ihm die Selbstachtung ist, die er durch die Schauspielerei und das harte Arbeiten an sich selbst gewinnt. Ob es nun auf- oder abwärts geht – Braun ist stets nah dran. Oftmals wird sie direkt als „Bettina" angesprochen und als Vertrauensperson angesehen, der gegenüber sich die Machos mehr Selbstzweifel und Schwächen eingestehen als anderswo. Sie entlockt ihnen eine ungeahnte Weichheit – das gelingt vor allem durch den wertfreien und respektvollen Umgang der Filmemacherin mit ihren Gegenübern, ihr geht es eben nicht primär um einen Diskussionsbeitrag zur „Migrantendebatte".

    In erster Linie erzählt Braun schlichtweg vom Heranwachsen vier junger Männer, von der Suche nach Identität und Richtung. Zwischen den Zeilen jedoch ist ihr dritter Abstecher nach Köln sehr wohl auch eine Studie über Erfolge und Misserfolge, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Thema Integration stehen. Wo in vergleichbaren TV-Dokus mittels Kommentar schnell gewertet wird, stellt Braun persönliche Fragen und hält sich mit Urteilen behutsam zurück. Und das ist durchaus angebracht, denn die widersprüchlichen Empfindungen der vier Jungs machen deutlich, wie komplex ihre Alltagsprobleme tatsächlich sind. So zetert Ali etwa über fehlende deutsche Vorbilder und die „deutsche Kultur" im Allgemeinen, betont an anderer Stelle jedoch, wie sehr er die „deutsche Ordentlichkeit" schätzt. Moussa sucht derweil einerseits lange vergebens nach einer Ausbildungsstelle, will aber andererseits wiederum nur einen Job annehmen, bei dem er seine täglichen Gebetsrituale wahren kann.

    Im Hintergrund stehen dabei Elternhäuser, in denen die abendländische Alltagskultur skeptisch beäugt wird. Wenn Moussas Schwester ihren Bruder in einer Schlüsselszene dazu ermutigt, seine Antriebslosigkeit zu überwinden und seine Bewerbungsbögen lieber „jetzt" statt „morgen" abzuschicken, wird jedoch ebenso klar: Auch in traditionsbewussten Familien machen Kinder verschiedene Entwicklungen durch. Bereits in der ersten Szene des Films spielt die Selbstachtungsfrage eine wichtige Rolle: Während ein munterer Kais von der Schauspielerei schwärmt und vergeblich versucht, seine Freunde für seine künstlerischen Ambitionen zu erwärmen, sitzen ihm drei Spätjugendliche gegenüber, deren Angst vor der Welt ihnen aus allen Poren dringt und die sich partout nicht dazu aufraffen können, ihrem geliebten Kiez, der Familie und dem Milieu zu entwachsen. Am Schluss trifft sich das Quartett ein weiteres Mal. Manche ihrer Probleme haben sie gelöst, andere sind hinzugekommen. Vermutlich werden sich drei der jungen Männer auch weiter im Kreis drehen, während sich nur einer echte Chancen erkämpft – ein trauriges und sehr ehrliches Ende für eine traurige und sehr ehrliche Dokumentation.

    Fazit: Mit „Wo stehst du?" erzählt Bettina Braun mit unbestechlichem Blick Geschichten vom Suchen, Kämpfen und Scheitern. Ob man die Lebenswege der vier jungen Männer auch von einer politischen Warte aus betrachtet, bleibt jedem selbst überlassen. Erhellend ist der Film in jedem Fall.

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