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    Tatort: Aus der Tiefe der Zeit
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Tatort: Aus der Tiefe der Zeit
    Von Lars-Christian Daniels

    Die Erwartungen könnten höher kaum sein: Fast zwei Jahrzehnte hat sich der in der Zwischenzeit mit Fernsehpreisen förmlich überschüttete Filmemacher Dominik Graf („Im Angesicht des Verbrechens“) Zeit gelassen, um zum dritten Mal nach 1986 und 1995 die Regie bei einem „Tatort“ zu übernehmen. Dabei schuf der zehnfache Adolf-Grimme-Preis-Gewinner und damit alleinige Rekordhalter mit „Frau Bu lacht“ eine der besten und meistdiskutierten Ausgaben der öffentlich-rechtlichen Krimireihe: Im Film verhelfen die moralisch in der Zwickmühle sitzenden Münchner Hauptkommissare Batic und Leitmayr einer überführten Mörderin zur Flucht und bremsen bei einem hochspannenden Flughafen-Showdown sogar die eigenen Kollegen aus – ein extrem gewagter Bruch mit dem obersten aller „Tatort“-Prinzipien, dass der Mörder am Ende immer gefasst wird. Ganz so mutig und radikal fällt Grafs dritte „Tatort“-Arbeit „Aus der Tiefe der Zeit“ zwar nicht aus, doch kann der Münchner Regisseur die hohen Erwartungen auch diesmal erfüllen: „Aus der Tiefe der Zeit“ ist ein erstklassig inszenierter, gekonnt arrangierter und hochkarätig besetzter Sonntagabendkrimi, der zu den besten „Tatort“-Folgen des Jahres 2013 zählt.

    Im Münchener Zuwandererviertel Westend steigen die Mieten: Ständige Schönheitsrenovierungen und Baumaßnahmen sorgen für Unmut in der alteingesessenen Bevölkerung. Auch Hauptkommissar Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) zieht vorübergehend in die baustellenreiche Gegend: In seiner Wohnung gab es einen Wasserschaden, und so sucht der Ermittler Zuflucht in der Dachgeschossbleibe eines verreisten Kollegen. Kaum ist Leitmayr eingezogen, werden er und sein Kollege Ivo Batic (Miroslav Nemec) zu einer nahegelegenen Baugrube gerufen, in der man die Leiche des vermisst gemeldeten Florian Holzer gefunden hat. Für dessen hochbetagte Mutter Magda Holzer (Erni Mangold), die in einer Villa am Isarufer residiert und es als einstige Kunstschützin „Calamity Jane“ im Zirkus Krone zu großem Ruhm gebracht hat, ist die Nachricht ein Schock: Sie war Florian deutlich mehr zugetan als ihrem zweiten Sohn Peter (Martin Feifel), der bei den Baumaßnahmen im Westend ein entscheidendes Wörtchen mitzusprechen hatte. Eine wichtige Rolle spielt auch Holzers Geliebte Liz Bernard (Meret Becker), eine egozentrische Eventmanagerin mit besten Kontakten zur Stadtverwaltung, die sich der ungeliebte Sohn offenbar mit seinem verstorbenen Bruder geteilt hat…

    Keine Frage – der Star im 884. „Tatort“ ist der Regisseur. Schon in den ersten Minuten gibt Dominik Graf eine beeindruckende Kostprobe seines inszenatorischen Facettenreichtums, stürmt mit Volldampf in die Geschichte und stößt das unvorbereitete Sonntagabendpublikum mit knackigen Parallelmontagen, anstrengenden Ton-Bild-Scheren und einem nebulösen Blick in die Vergangenheit kolossal vor den Kopf. Wahrlich kein klassischer „Tatort“-Auftakt! Auch in der Folge legt der Filmemacher, der in den vergangenen Jahren auch mehrere hervorragende „Polizeiruf 110“-Folgen drehte, ein mörderisches Erzähltempo mit permanenten Location-Sprüngen und hoher Schnittfrequenz vor: Selbst Leitmayrs einleitende Wohnungssuche, die für den Kommissar aufgrund der zahlreichen Baustellen, Einbahnstraßen und nutzlosen Anweisungen seines Navigationssystems zur ärgerlichen Odyssee wird, inszeniert Graf als Wettlauf gegen die Zeit – dabei ist die Leiche zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal gefunden.

    Sieht anfangs noch alles danach aus, als müsste einmal mehr nur der größte Übeltäter im Korruptionsdickicht der gnadenlos gewinnorientierten Immobilienbranche ausgemacht werden (wie zum Beispiel 2011 im Stuttgarter „Tatort: Grabenkämpfe“), offenbart sich bald, dass die eigentliche Antriebsfeder der Handlung die innerfamiliären Konflikte der schwerreichen Holzers sind, die in der Münchner Vorstadt ein mondänes Anwesen bewohnen. Der ermordete Florian Holzer bleibt erwartungsgemäß nicht die einzige Leiche: In einer packend inszenierten, erotisch-emotionalen Sequenz nimmt sich ein weiteres Familienmitglied mit einem Kopfschuss das Leben und stellt die Täterfrage zu diesem Zeitpunkt komplett auf den Kopf. Die Münchner Kommissare müssen sich einen neuen Hauptverdächtigen suchen, und graben bei ihren Ermittlungen – der Krimititel deutet es bereits an – tief in der Münchner Stadtgeschichte, wie sie es bereits 2008 im „Tatort“-Meilenstein „Der oide Depp“ taten. Dabei treffen sie auch auf Landsmänner vom Balkan: Der kroatische Hauptkommissar Batic schleust sich gekonnt in dubiose Spielhallen ein und muss beim Verhör des senilen Rentners Alex Kovacz (Branko Samarovski, „Das weiße Band“) der das entscheidende Puzzleteil zur Auflösung beiträgt und dessen Zimmer ein Plakat der deutsch-jugoslawischen Karl-May-Verfilmung „Der Schut“ schmückt, auch seine Qualitäten als Simultandolmetscher für den Kollegen unter Beweis stellen.

    Der Zuschauer hingegen kommt sich phasenweise weniger vor wie bei Kara Ben Nemsi (Lex Barker) und Hadschi Halef Omar (Ralf Wolter), sondern eher wie in einem stimmungsvollen Italo-Western: Magda Holzer (überragend: Erni Mangold, „3096 Tage“) ballert mit ihrer Flinte zielsicher auf alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ihres riesigen Gartens ist, während der kinoerprobte Kameramann Alexander Fischerkoesen („Frisch gepresst“, „Hanni & Nanni“) mit auffallend häufigen Zoom-Ins Erinnerungen an Leone, Corbucci & Co. weckt. Es spricht nicht nur für Regisseur Graf, sondern auch für das erstklassige Drehbuch seines auch tatorterprobten Weggefährten Bernd Schwamm („So weit die Füße tragen“), dass die Form dabei nie über den Inhalt siegt: „Aus der Tiefe der Zeit“ funktioniert trotz seiner dramaturgischen Nähe zum emotionalen Familiendrama auch als Fernsehkrimi zum Miträtseln und steuert zielstrebig auf einen blutig-bildgewaltigen Showdown zu, der sich fast anfühlt wie eine antike Tragödie – das Wasser im Schwimmbecken färbt sich rot, die Holzersche Villa wird auch symbolisch in ihren Grundfesten erschüttert, und die Münchner Hauptkommissare müssen machtlos dabei zusehen.

    Trotz des Krimikorsetts kommt erwartungsgemäß auch der Humor nicht zu kurz und wird – wie immer in München – angenehm subtil ins Geschehen eingeflochten: Die Kommissare kühlen den viel zu heißen Automatenkaffee im Mini-Kühlschrank ihres Büros gekonnt auf zungenfreundliche Temperatur herunter, Leitmayr trägt wie selbstverständlich kanarienvogelfarbige Bademäntel aus dem Kleiderschrank seines verreisten Kollegen und bleibt bemerkenswert souverän, als einer übernächtigten Zeugin beim Verhör versehentlich die Brust aus dem zu locker geschnürten Bademantel hüpft. In einer Nebenrolle ist darüber hinaus Ex-„Tatort“-Kommissar Maximilian Brückner („Spieltrieb“), den der Saarländischen Rundfunk 2011 gemeinsam mit seinem Kollegen Gregor Weber im Zuge einer medialen Schlammschlacht vor die Tür setzte, zu entdecken: Man muss zweimal hinsehen, um den wie verwandelt wirkenden Blondschopf als top-gestylten Edel-Coiffeur mit offenem Ohr für entscheidende Hinweise auf den Mörder wiederzuerkennen.

    Fazit: „Aus der Tiefe der Zeit“ ist ein erstklassig inszeniertes und hochkarätig besetztes Krimidrama –die nächste starke TV-Produktion unter Regie von Dominik Graf und eines der großen „Tatort“-Highlights des Jahres.

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