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    Lunchbox
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Lunchbox
    Von Gregor Torinus

    Denkt man an indische Filme, denken viele höchstwahrscheinlich zuerst an Bollywood, an bunte, laute Dramen voller Tanz und Gesang. Man denkt an dieses Bollywood-Kino, das seinen ganz eigenen Charme versprüht, aber auch alles andere als subtil ist. Ein am europäischen Vorbild orientiertes Arthouse-Kino hat es in Indien nach wie vor schwer: Ohne entsprechende internationale Kooperationen ist es bis heute fast unmöglich solche Werke produzieren, doch es gibt sie: Ein außergewöhnlich gelungenes Beispiel einer indisch-europäischen Koproduktion ist der Liebesfilm „Lunchbox“. Das Debüt von Ritesh Batra, der auch das Drehbuch verfasst hat, ist das genaue Gegenteil eines typischen Bollywood-Films und besticht durch seine leisen Töne und zarten Beobachtungen.

    Damit der arbeitende indische Ehemann auch während der Mittagspause in seinem Büro nicht auf das Essen seiner Frau verzichten muss, hat sich in Mumbai ein einzigartiger Lieferservice entwickelt. Die Dabbawallas holen das in Lunchboxen verpackte frisch zubereitete Essen am späten Vormittag ab und transportieren die Boxen über mehrere Zwischenstationen per Fahrrad und mit der Bahn direkt auf den Bürotisch. Auch Ila (Nimrat Kaur) versorgt ihren Gatten Rajeev (Nakul Vaid) täglich mit einer leckeren Lunchbox. Da ihr Mann sie in letzter Zeit etwas vernachlässigt hat, gibt Ila sich beim Kochen neuerdings ganz besondere Mühe. Doch das Schicksal will es, dass ausgerechnet die erste Lunchbox mit besonders köstlichem Inhalt irrtümlich auf dem Tisch des seit dem Tod seiner Frau einsamen  Versicherungsangestellten Saajan (Irrfan Khan) landet. Als Ila bemerkt, dass ihre Lunchbox beim falschen Empfänger landet, legt sie in die nächste eine handgeschriebene Botschaft, um zu erfahren, wer der unbekannte Adressat ist. Tatsächlich schreibt Saajan ihr zurück und so entwickelt sich langsam eine Beziehung zwischen den beiden einsamen Großstadtseelen.

    „Lunchbox“ ist ein sehr leiser Film in einer sehr lauten Stadt. Ritesh Batra zeigt seine Heimatstadt Mumbai als brodelnde, multikulturelle Metropole, die zugleich extrem überlaufen und chaotisch ist. Auf einer seiner Bahnfahrten zur Arbeit wird Saajan bewusst, dass es schon lange her ist, seit er noch regelmäßig einen Sitzplatz bekommen hat. Aber nicht nur das: Im Gegensatz zu seiner verstorbenen Frau bekommt er noch nicht einmal mehr ein horizontales Grab, sondern wird auch noch im Tod stehen müssen. Anhand solcher Anekdoten zeigt Batra in „Lunchbox“ wie schwer es für die Bewohner Mumbais ist, ihren Platz im Leben – und sogar im Tod – zu finden. Umso schwerer haben es Ila und Saajan, die an der Abwesenheit bzw. der mangelnden Zuneigung ihres Partners leiden und zunehmend vereinsamen. Saajan schaut nach der Arbeit alleine Fernsehen oder steht rauchend auf dem Balkon und beobachtet die Nachbarn. Ila kommuniziert fast nur über das offene Küchenfenster mit ihrer Nachbarin (Bharati Achrekar) von oben. Deren Mann schläft die ganze Nacht und starrt tagsüber apathisch den Ventilator an der Decke an. Deshalb traut sich seine Frau nicht, diesen auszuschalten, da sie Angst hat, dass ihr Mann dann sterben würde. Einmal ruft sie Ila zu, dass sie heute den Ventilator geputzt habe, während er lief. „Lunchbox“ ist voll von solchen kleinen Details, die den besonderen Charme des Romantikdramas ausmachen.

    Ganz wunderbar ist die nuancierte Darstellung von Irrfan Khan („Slumdog Millionär“, „Darjeeling Limited“) in der Rolle des Saajan. Dieser erscheint zunächst lediglich ein abgestumpfter Büromensch und Misanthrop zu sein. Doch mit jeder neuen Lunchbox und jeder darin enthaltenen Nachricht von Ila taut Saajan ein wenig mehr auf und entdeckt zunehmend seine verschütteten Gefühle. Seit dem Tod seiner Frau hatte er sich immer mehr zurückgezogen und lässt durch den Kontakt mit Ila nun wieder Emotionen zu. Seine Entwicklung deutet Ritesh Batra in kleinen Gesten an, die „Lunchbox“ zu einem filmischen Gedicht werden lassen: Als Saajan eine der ersten Lunchboxen von Ila erhält, betrachtet er sie zunächst verunsichert und trägt sie dann in die Firmenkantine. Langsam öffnet er eine Box nach der anderen und atmet den köstlichen Duft ihres Inhalts ein. Später lauert er erwartungsvoll auf die Lieferung durch die Dabbawallas und kann es sich nicht mehr verkneifen, seine Lunchbox bereits im Büro zu öffnen, was ihm neugierige und irritierte Blicke seines Tischnachbarn einträgt. Es sind solche leisen Momente, die „Lunchbox“ zu einem poetischen, zutiefst menschlichen Film machen.

    Fazit: „Lunchbox“ erinnert an das vietnamesische Kinogedicht „Der Duft der grünen Papaya“ und ist eine ähnlich poetische Romanze. Nicht umsonst war Ritesh Batras liebenswertes, inmitten des gleichermaßen quirligen wie chaotischen Mumbai angesiedeltes Feelgood-Movie ein Geheimtipp auf dem Festival in Cannes 2013.

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