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    All The Dead Ones
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    All The Dead Ones

    Die Geister der Sklaverei

    Von Christoph Petersen

    Wenn in den ersten Szenen von „All The Dead Ones“ eine alte schwarze Frau sehr aufwendig Kaffee zubereitet, kommt das einem Ritual gleich. Sie röstet die Bohnen über dem offenen Feuer im Garten, sie mahlt ihn, sie kocht ihn – und serviert ihn ihrer „Herrin“, die sie bei dem Prozess gar nicht persönlich zu Gesicht bekommt, weil in dem ehrwürdigen Stadthaus in São Paulo mittels eines Glockensystems (wie man es aus „Downton Abbey“ kennt) kommuniziert wird. Solche Rituale sind aber auch alles, was von der alten Welt, an die sich die einen klammern und von der die anderen nicht loskommen, noch geblieben ist.

    „All The Dead Ones“ spielt an vier Feiertagen in den Jahren 1899 und 1900, also ziemlich genau zehn Jahre, nachdem in Brasilien offiziell die Sklaverei abgeschafft wurde. Es ist eine Zeit des Übergangs. Die reichen weißen Plantagenbesitzer hadern mit dem Rückgang ihres Reichtums. Sie sehen sich womöglich sogar als eigentliche Opfer, wie die Patriarchin Isabel (Thaia Perez), die nach der Beerdigung ihrer langjährigen und letzten verbliebenen Haushaltshilfe vor allem darüber jammert, dass nun niemand mehr da ist, um ihre Füße zu waschen. Daran, der Enkelin der Toten Bescheid zu sagen, denkt hingegen niemand. Das Privatleben der Schwarzen hat schließlich auch früher keine Rolle gespielt.

    Isabel weint der alten Zeit nach.

    Die Regisseure und Autoren Marco Dutra und Caetano Gotardo inszenieren „All The Dead Ones“ als eine Art Geisterfilm, in dem alle noch das tun, was sie auch vor dem Ende der Sklaverei getan haben – eben wie Geister, die nach dem Tod eine typische Tätigkeit aus Lebzeiten bis in alle Ewigkeit fortführen. Eine ganze Gesellschaft klammert sich zunehmend verzweifelt an das Rituelle – und da kommt dann auch die gerade schon erwähnte Enkelin namens Iná (Mawusi Tulani) ins Spiel:

    Isabels Töchter Ana (Carolina Bianchi), eine Pianistin, die wegen ihrer Hochsensibilität das Haus nicht mehr verlassen kann, und Maria (Clarissa Kiste), die sich inzwischen als Nonne der Kirche angeschlossen hat, sorgen sich um ihre kranke Mutter. Helfen soll ein afrikanisches Voodoo-Ritual, das Iná für sie im Stadthaus der Familie durchführen soll. Aber auch Iná, die sich seit dem Verschwinden ihres Mannes allein um ihren Sohn João (Agyei Augusto) kümmert, hat Probleme. Denn auch wenn die Sklaverei verboten ist, wurde es versäumt, im selben Moment auch einen Raum für die Befreiten (metaphorisch in der Gesellschaft und auch ganz reell zum Schlafen) zu schaffen…

    Von der Unabhängigkeit zum Karneval

    Der Einstieg ausgerechnet mit dem Unabhängigkeitstag 1899 ist natürlich gleich eine erste bissige Spitze gegen die noch immer bestimmenden Plantagenbesitzer – sowieso ist „All The Dead Ones“ – trotz einer gewissen Sprödheit in der strengen Inszenierung – von einem feinen ironischen Humor durchzogen. Die Dualität der vier Hauptfiguren, übrigens alles Frauen, spiegelt sich dann in den folgenden beiden Feiertagen wider – auf den mittel- bzw. süd-amerikanischen Tag der Toten folgt das europäisch geprägte Weihnachtsfest. Aber zu feiern gibt es wenig – es ist überhaupt eine fast schon bösartige Pointe des Films, dass er seinen Abgesang auf das alte System (inklusive des Scheiterns von allem neuen) ausgerechnet an vier Feiertagen erzählt.

    Auf der anderen Seite: An Feiertagen kommen sich die reale Welt und die Welt der Geister ja immer besonders nahe – schließlich geht es oft ganz explizit darum, Geister zu besänftigen oder zu vertreiben. Aber die Geister der Sklaverei wird man nicht so einfach wieder los. Sie haben sich etwa im Kopf der im Verlauf des Films immer aschfahler werdenden Ana eingenistet, weshalb sie auch andauernd Gegenstände (wie einen Kaffeesack oder Briefe des Vaters) im Garten vergräbt, die sie an ihr altes Leben auf der Plantage erinnern (wo die toten Sklaven in der Regel nicht anständig vergraben wurden). Ihr ständiges Klavierspiel ist dabei auch wieder eines dieser omnipräsenten Rituale, einmal mehr ein Klammern, in diesem Fall an die Hochkultur, die die Besitzenden von den Habenichtsen trennt.

    Iná und ihr Sohn João.

    Am Ende kommt es – wie könnte es in einer solchen Geschichte des Niedergangs auch anders sein – zur großen Tragödie. Es ist eine Tragödie, bei der das Alte das Neue gleich mit in den Abgrund reißt. So schnell gibt es daraus kein Entkommen – und so öffnet „All The Dead Ones“ in seinen abschließenden Momenten plötzlich noch eine Tür mitten hinein in das heutige São Paulo. Die damals heraufbeschworenen Geister sind auch mehr als 120 Jahre später noch immer nicht verschwunden.

    Fazit: Mit „All The Dead Ones“ entwerfen Marco Dutra und Caetano Gotardo eine filmische Zwischenwelt in den Lücken zwischen Agrartradition und Industrierevolution, Sklaverei und Freiheit, Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod – ein eleganter, aber auch spröder Historienfilm, der mit seinen finalen Einstellungen bis in die Gegenwart hinein spukt.

    Wir haben „To All The Dead Ones“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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