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    Mit siebzehn
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Mit siebzehn
    Von Andreas Staben

    Die Situation hat wohl fast jeder Zuschauer schon einmal so oder ähnlich erlebt: Im Sportunterricht soll ein Basketballmatch ausgetragen werden. Der Lehrer bestimmt zwei Sportasse, die sich im Wechsel ihre Mitspieler aussuchen sollen. Das geht erst wie geschmiert, doch irgendwann ist die Wahl nicht mehr so offensichtlich und es sitzen nur noch die Außenseiter und Nicht-Gewollten auf der Bank. Erst als der Lehrer wieder eingreift, finden die letzten beiden Kandidaten ihre Mannschaft: Eine solche Szene kann man sich gut mit einem anklagenden oder mitleidheischenden Tonfall vorstellen - so grausam kann es sein, ein Teenager zu sein. Doch in André Téchinés ganz besonderem Coming-of-Age-Drama „Mit siebzehn“, das im Wettbewerb der Berlinale 2016 seine Weltpremiere erlebte, gibt es keine aufgesetzten Sentimentalitäten. Der Regisseur betont das Unbehagliche der Episode nicht, er fängt sie vielmehr fast beiläufig ein und gerade dadurch gerät sie dem inzwischen 72-jährigen Filmemacher so ungezwungen, natürlich und echt, dass man glauben könnte, er sei selbst gerade erst dem Jugendalter entwachsen. Zugleich hat die Art, wie Téchiné diesen erzählerischen Mosaikstein in ein gleichermaßen präzises wie poetisches Porträt seiner beiden Hauptfiguren und ihrer Beziehung einbaut, etwas von der klassischen Eleganz großer künstlerischer Reife.

    Damien (Kacey Mottet Klein) und Thomas (Corentin Fila) sind Klassenkameraden in einem Gymnasium irgendwo in den französischen Pyrenäen. Die beiden 17-Jährigen können sich nicht ausstehen und geraten immer wieder aneinander. Damien wohnt mit seiner Mutter, der Landärztin Marianne (Sandrine Kiberlain) im Tal, sein Vater Nathan (Alexis Loret) ist Hubschrauberpilot beim Militär und befindet sich im Auslandseinsatz, während der adoptierte Thomas mit seiner Familie auf einem entlegenen Bauernhof lebt und jeden Tag mehr als eine Stunde zur Schule unterwegs ist. Als Marianne bei seiner Mutter Christine (Mamma Prassinos) eine Schwangerschaft feststellt, lädt sie ihn ein, vorübergehend bei Damien und ihr zu wohnen. Sie will seine Eltern entlasten, die Zeitersparnis könne zudem Thomas' schulischen Leistungen zugute kommen. Von der Aussicht unter einem Dach zu leben, sind die beiden Halbwüchsigen allerdings alles andere als begeistert. Sie fügen sich nur widerwillig. Bald entladen sich die Spannungen zwischen ihnen in Gewalt …

    Als Damien in der Klasse leidenschaftlich Verse von Rimbaud vorträgt (aus dessen Gedicht „Roman“ stammt auch der Filmtitel „Quand on a 17 ans“ - wenn man 17 ist), stellt Thomas ihm ein Bein. Er revanchiert sich, indem er Thomas bei der Lösung einer Matheaufgabe an der Tafel bloßstellt. Zwischen dem blassen Damien mit seinem auffälligen Ohrring und dem dunkelhäutigen Thomas, der sein mitgebrachtes Essen am liebsten ganz alleine in der Umkleidekabine zu sich nimmt, fliegen von Anfang an die Funken. In ihnen brodelt es, was mit ihnen los ist, das verstehen sie zunächst nicht. Die unterschwelligen und überfordernden Gefühle der Pubertät und die Entdeckung des Andersseins, darum ging es schon in André Téchinés hierzulande wohl bekanntestem Film „Wilde Herzen“ von 1994. Hier arbeitet er nun erstmals mit der Drehbuchautorin Céline Sciamma zusammen, die sich in ihren eigenen Filmen wie „Bande de filles“ und „Tomboy“ auf die Lebenswelten jugendlicher Mädchen spezialisiert hat. So verbindet sich in „Mit siebzehn“ das impressionistische Feingefühl Téchinés mit den rauen Ritualen Sciammas: Wenn Thomas und Damien sich mitten in der Natur leidenschaftlich raufen, dann ist das brutal und erotisch zugleich, der von Téchiné in einer wunderbaren Totalen eingefangene Kampf wird zu einer wahren Gefühlsexplosion.

    Überhaupt ist „Mit siebzehn“ ein Film von überwältigender Sinnlichkeit. Vom Schulweg durch Schneelandschaften über ein nächtliches Bad im Bergsee bis zur flirrenden Sommerhitze: In dem in die drei Trimester eines französischen Schuljahrs eingeteilten Film spielt die Natur eine entscheidende Nebenrolle und die Jahreszeiten werden zu erzählerischen Komplizen – und das ohne jede symbolische Überhöhung. Auch die Schauspieler scheinen gar nicht zu spielen: Die ganzen unausgesprochenen Gedanken und widerstreitenden Gefühle stehen Kacey Mottet Klein (der Junge aus „Winterdieb“ ist groß geworden) im Gesicht und oft schauen wir mit ihm auf den faszinierend-irritierenden Corentin Fila, dessen abweisende Körperhaltung wiederum Bände spricht. Vielleicht noch beeindruckender als die Darbietungen von Mottet Klein und Fila ist allerdings die Leistung von Sandrine Kiberlain („Mademoiselle Chambon“). Ihre optimistische Landärztin ist jedenfalls die schönste Figur des Films. Wie sie die Sorge um den Mann im Krieg nur aufblitzen lässt und unterdrückt, wie sie immer alles positiv sieht (und dabei auch einiges übersieht) und wie sie auf eine Beichte ihres Sohnes reagiert hat eine solche Menschlichkeit und Wärme, dass es einem das Herz bricht, wenn diese Frau im späteren Verlauf an ihre Grenzen stößt. Aber das ist nur einer der Schätze dieses Films voller unvergesslicher Momente, zu denen unter anderem auch eine Einweisung in die moderne Landwirtschaft und eine militärische Zeremonie gehören.

    Fazit: Sinnlich, bewegend, wunderschön!

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