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    Cartel Land
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Cartel Land
    Von Sascha Westphal

    Es gibt einen Krieg, der währt nun schon etwa 40 Jahre. Seine Opfer sind ungezählt, und jeder Sieg, den die US-Amerikaner in dieser langen Zeit für sich verbucht haben, ist längst in eine Niederlage umgeschlagen. Mitte der 1980er Jahre, als Ronald Reagan im Weißen Haus regierte und seine Ehefrau Nancy den Slogan „Just Say No!“ ausgab, stand er ziemlich weit oben auf der politischen Agenda der Vereinigten Staaten. Nach dem 11. September 2001 war das mit einem Mal ganz anders. Nun hatte der „War on Terror“ Vorrang, und der kurz nach dem Fall von Saigon 1975 begonnene „War on Drugs“ verschwand für Jahre weitgehend aus den Schlagzeilen und Köpfen. Doch nun scheint das Pendel wieder in die andere Richtung auszuschlagen, zumindest in den Medien. Don Winslows Romane „Tage der Toten“ und „Das Kartell“, Chris Brancatos Netflix-Serie „Narcos“, Andrea Di Stefanos „Escobar - Paradise Lost“ und Denis Villeneuves „Sicario“, sie alle zeugen von dem neuerwachten Interesse am US-amerikanischen Krieg gegen die Drogen, der wie alle Kriege immer auch ein Propagandafeldzug war: „Sag einfach Nein!“ Auch Matthew Heineman erzählt in seiner Dokumentation „Cartel Land“ von den unermesslichen Verwüstungen, die dieser Krieg angerichtet hat. Allerdings nähert er sich ihnen von einer ganz anderen Seite als die oben genannten Filme und Serien. Er rückt die ins Zentrum, die zwischen die Fronten geraten sind.

    Einer derjenigen, die es einfach nicht mehr ausgehalten haben, tatenlos mitanzusehen, wie immer mehr Zivilisten in Mexiko Opfer der Gewalt der Kartelle werden, ist der Arzt und Rancher Jose Manuel Mireles. Er hat sich den Autodefensas, einer am 24. Februar 2013 im mexikanischen Bundesstaat Michoacán ins Leben gerufenen Selbstjustiz-Bewegung, recht früh angeschlossen. Als charismatischer Redner und Anführer war er etwa ein Jahr lang das Gesicht dieser Bürgerwehr, die es sich zum Ziel gemacht hat, die Kartelle aus ihren Dörfern und Städten zu vertreiben. Regisseur Heineman hat Jose Manuel Mireles in diesem Jahr immer wieder getroffen und begleitet, auch bei den nächtlichen Einsätzen der Autodefensas. Es ist ein verzweifelter Kampf, den er teils unter Lebensgefahr filmt, einer, der letzten Endes doch nur verloren gehen kann. Parallel dazu hat Heineman auch auf der US-Seite der Grenze gedreht. Dort begleitet er den Ex-Soldaten und Ex-Junkie Tim „Nailer“ Foley, der sich mit anderen weißen Amerikanern in einem paramilitärischen Verband zusammengeschlossen hat, der sich „Arizona Border Recon“ nennt.

    Auch wenn Heineman auf der anderen Seite der Front filmt, bei den Angehörigen der Kartelle, ist da schon in den ersten Momenten eine extreme Nähe. Nachts, irgendwo in der Wildnis von Michoacán. Die Lichtverhältnisse sind alles andere als ideal, und die Männer, die Matthew Heineman filmt, verbergen ihre Gesichter wie einst die Banditen im Western hinter Halstüchern. Es ist ein doppelter Schutz. Zum einen verdecken die sie so ihre Identität, zum anderen sollen die Tücher sie gegen die Chemikalien schützen, mit denen sie in dieser eher improvisierten Meth-Küche arbeiten. Was die Männer sagen, ist eine von einer ungeheueren Resignation erfüllte Anklage. Auch sie würden gerne anders leben, etwa so wie die Filmemacher, die sie gerade beobachten. Aber das lassen die Verhältnisse in Mexiko nicht zu. Außerdem sind Drogen gefragt, vor allem jenseits der Grenze in den USA.

    Wie in dieser Szene geht Matthew Heineman immer ganz nah an die Menschen heran, die er filmt. Er versucht, jene Distanz, die es natürlich zwischen ihm, dem amerikanischen Filmemacher, und den Mitgliedern der Bürgerwehren wie der Kartelle gibt, einfach zu leugnen. Dabei gerät er nicht nur mehrmals im wörtlichen Sinne in die Schusslinie. Er überschreitet auch Grenzen. Seine – nennen wir es einmal – Action-Dokumentation entsteht eben nicht nur sozusagen mitten aus dem Geschehen. Sie lädt auch das Publikum dazu ein, sich von den Bildern und den Ereignissen einfach überwältigen zu lassen. Die großen ethischen Fragen bleiben erst einmal außen vor, aber nicht aus dem Spiel. Sie kommen später, wenn Heinemans Material nachwirkt.

    Heineman macht sein Publikum ganz bewusst zu Komplizen von Jose Manuel Mireles und Tim „Nailer“ Foley. Zunächst fällt es noch schwer, sich ihnen zu entziehen. Selbst Foley, der offenkundig rassistische Vorstellungen hat und ganz sicher nicht nur auf Drogenkuriere Jagd macht, hat etwas Mitreißendes. Letztlich ist es auch kein Zufall, dass dieser Mann, dem sein Leben sichtlich entglitten ist, zu einer zentralen Persönlichkeit in der paramilitärischen Szene von Arizona geworden ist. Indem Heineman den Betrachter direkt in den Strudel der außer Kontrolle geratenen Ereignisse wirft, vermittelt er einen Eindruck davon, wie leicht es einem hier am Ende fallen kann, Grenzen zu überschreiten. Einmal wird der Filmemacher Zeuge, wie Mireles einem seiner Männer befiehlt, ein vermeintliches Kartellmitglied zu foltern und dann zu ermorden. Das ist der Augenblick, nach dem eine Umkehr nicht mehr möglich ist. Das eigentlich idealistische Projekt der Autodefensas ist gescheitert. Die Bürgerwehr unterscheidet sich in der Wahl ihrer Mittel zu diesem Zeitpunk kaum mehr von den Kartellen. Wahrscheinlich musste es so kommen. Selbstjustiz lässt sich auf Dauer eben nicht kontrollieren. Trotzdem liegt eine ungeheuere Tragik in diesem Moment.

    Fazit: Natürlich überschreiten nicht nur die Mitglieder der mexikanischen und US-amerikanischen Bürgerwehren ständig Grenzen. Auch der Filmemacher Matthew Heineman geht in seinem Versuch, die blutigen Ereignisse ungefiltert zu dokumentieren, ein ums andere Mal zu weit. Aber eben diese Tabubrüche, bei denen das Filmteam mehr als nur das eigene Leben riskiert, sind es, die einem ganz unmittelbar zeigen, was der Krieg gegen die Drogen in Mexiko und den Vereinigten Staaten angerichtet hat.

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