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    Graduation
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Graduation
    Von Christoph Petersen

    Festival-Liebling und Mitbegründer der Rumänischen Neuen Welle Cristian Mungiu (Goldene Palme für „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“) lotet auch in seinem fünften Spielfilm „Graduation“ einmal mehr die politischen Probleme seines Heimatlandes in einer trügerisch privaten Erzählung aus: Zwar nimmt Romeo Aldea (Adrian Titieni) im Gegensatz zu seinen Arztkollegen von seinen Patienten keine Bestechungsgelder, aber darüber hinaus ist der 49-Jährige mit seinem Vorhaben gescheitert, nach dem Ende der kommunistischen Diktatur „Berge zu versetzen“. Inzwischen ruhen alle seine Hoffnungen auf seiner Tochter Eliza (Maria Dragus), die nach ihrem Schulabschluss in Großbritannien studieren soll. Aber dann bleibt die 18-Jährige in der finalen Prüfung hinter ihren Möglichkeiten zurück, nachdem sie nur einen Tag zuvor auf dem Weg zur Schule angegriffen und beinahe vergewaltigt wurde. Romeo setzt entgegen seiner Prinzipien alles daran, um den für ein Stipendium nötigen Notenschnitt seiner Tochter doch noch zu sichern ...

    Romeo Aldea ist ein zutiefst tragischer Held - jemand, der seine hehren Ziele nicht nur verpasst hat, sondern sich das auch ohne jede falsche Illusion selbst eingesteht. Adrian Titieni („Mutter und Sohn“) verkörpert den aufrechten Arzt mit viel Würde und unbedingter Hingabe für seine Tochter - obwohl man an seinen Augen ablesen kann, dass er innerlich längst gebrochen ist. Als Zuschauer drückt man ihm auf seinem Weg fest beide Daumen - auch wenn wir im Gegensatz zu ihm viel früher erkennen, dass er mit dem Verrat seiner Prinzipien, und sei es auch aus noch so guter Absicht, wahrscheinlich nur einen noch viel größeren Schaden anrichten wird. Immerhin nimmt er seiner Tochter so endgültig ihr väterliches Vorbild und den Glauben daran, dass man es in dieser Welt auch als moralischer Mensch irgendwie schaffen kann.

    Dass nicht nur die rumänische Gesellschaft zersetzende Eine-Hand-wäscht-die-andere-Prinzip ist in „Graduation“ absolut allgegenwärtig. Manchmal ganz zentral, wenn Romeo etwa einem Politiker beim Beschaffen einer Spenderleber hilft oder ihn ein Schulbeamter beim Manipulieren der Abschlusstests unterstützt. Aber noch öfter spielt es auch nur ganz am Rande mit rein, in einer beiläufigen Bemerkung oder einer kurzen Anekdote. So erfährt selbst die Polizei an einer Stelle nur von einem tödlichen Autounfall, weil ein mit einem der Polizisten verwandter Bestattungsunternehmer einen Krankenwagenfahrer dafür bezahlt, dass der ihm steckt, wenn irgendwo jemand ums Leben kommt. Was leicht in stumpfes Rumänien-Bashing hätte ausarten können, entwickelt sich hier dank des subtilen, naturalistischen Stils des Regisseurs zu einer kraftvollen, wenn auch schmerzhaften Bestandsaufnahme. Ganz aufgeben will der Regisseur seine Heimat trotzdem nicht: Nach zwei wenig optimistisch stimmenden Stunden lässt er am Ende zumindest noch einen kleinen Hoffnungsschimmer zu.

    Fazit: Ein harscher Abgesang auf die erste nachkommunistische Generation Rumäniens, der Cristian Mungiu in seinem Cannes-Wettbewerbsbeitrag die bitterste aller Schulnoten ausstellt: „Sie hat sich bemüht.“

    Wir haben „Graduation“ im Rahmen der 69. Filmfestspiele von Cannes gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wurde.

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