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    Pinocchio
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Pinocchio

    Die bisher schönste Verfilmung des Stoffes

    Von Janick Nolting

    Wenn Matteo Garrone eine Familienfilm dreht, dann sollten Eltern vorsichtig sein. Schließlich war sein Fantasy-Epos „Das Märchen der Märchen“ entgegen des Titels nicht im geringsten kindertauglich, sondern mit einigen doch sehr blutigen Gewaltspitzen eigentlich nur Erwachsenen zumutbar. Nach einem (erneuten) Ausflug in den Mafiafilm mit „Dogman“ hat sich der „Gomorrha“-Regisseur nun DEN italienischen Kinderbuchklassiker schlechthin vorgenköpft – und ist damit nicht der einzige, der in den vergangenen Jahren Interesse an dem Stoff zeigte. „Pinocchio“ bleibt zeitlos beliebt, neben Garrone arbeitet etwa auch Guillermo del Toro an einer Verfilmung der Geschichte über die lebendige Holzpuppe. Wo del Toro jedoch einen sehr düsteren Film versprochen hat, besinnt sich Garrone in seinem „Pinocchio“ wieder auf die Kindlichkeit. So ganz ohne Horror geht´s aber auch bei ihm nicht!

    Der Tischler Geppetto (Roberto Benigni) hat es nicht leicht im Leben. Geld und Nahrung sind permanent knapp, die Arbeitsaufträge rar. Doch sein Alltag wird ordentlich durcheinandergewirbelt, als seine neu geschnitzte Marionette Pinocchio (Federico lelapi) lebendig wird. Bevor der ältere Herr in seiner Vaterrolle aufblühen kann, büxt die rebellische Holzpuppe allerdings kurzerhand aus. Pinocchio begibt sich auf eine schier endlose Reise und gerät dabei von einer Gefahr in die nächste…

    Wunderbar Warmherzig: Roberto Begnini als Geppetto.

    Garrones „Pinocchio“ ist optisch überwältigend! Der italienische Star-Regisseur lässt die Geschichte vor malerischen Kulissen ablaufen. Die Figuren bewegen sich in verfallenden Dörfern und alten Ruinen aus vergangenen Jahrhunderten, Garrone bevölkert sie wieder mit jenen zeitlosen, märchenhaften Figuren, die (zumindest in Italien) wirklich jedes Kind kennt. Damit schafft er eine beeindruckende, ebenso naturalistische wie surreale Zwischenwelt, perfekt eingefangen von Nicolai Brüels dynamischer Kameraarbeit. Auch innerhalb der Räumlichkeiten sind das wunderschön ausstaffierte Bilder, egal ob es das Feenhaus, das Innere eines Wals oder die Werkstatt des von Oscarpreisträger Roberto Benigni wunderbar warmherzig gespielten Geppetto ist.

    Verzaubernd und gruselig zugleich

    Am bemerkenswertesten ist jedoch die Tricktechnik, die in diesem Film aufgefahren wird. Garrone setzt fast ausschließlich auf praktische Effekte, Prothesen, aufwendiges Make-up. Bei all den obskuren Mensch-Tier-Verschmelzungen (u.a. eine Schneckenfrau und ein Thunfisch mit Menschengesicht) denkt man kurz mit Schrecken an Tom Hoopers „Cats“-Verfilmung zurück, aber auch daran, wie diese vergeigte Musicalverfilmung theoretisch hätte aussehen können, wenn man sich auf die altmodische Maskenkunst verlassen hätte. Okay, etwas Albtraumhaftes wohnt diesen Figuren auch in „Pinocchio“ inne, doch die Skurrilität der Wesen aus Carlo Collodis Romanvorlage wird hier wunderbar auf die Leinwand gebracht.

    Apropos Albtraum! „Pinocchio“ war im Kern schon immer eine verdammt düstere Geschichte voll zwielichtiger Gestalten und brutalem Körperhumor. Immerhin ist eine der ersten Irrungen auf Pinocchios Odyssee, dass ihm die Beine vom Kaminfeuer weggebrannt werden. Wenn die Puppe mit den glimmenden Beinstümpfen über den Boden kriecht oder später, wenn er und ein neugewonnener Freund in Esel verwandelt werden, dann hat das doch wieder etwas von dem Horrorfaktor, den Garrone in „Das Märchen der Märchen“ heraufbeschworen hat. Wer nicht hören will, der muss fühlen, dieses Credo der Vorlage ist auch aus der Neuverfilmung nicht wegzudenken.

    Brutale Lektionen

    Collodis Roman ist durchzogen von schwärzester Pädagogik und aus heutiger Sicht eigentlich ziemlich aus der Zeit gefallen. Freie Jugendentfaltung ist hier nicht zu finden! Schließlich kann „Pinocchio“ nur ein echter Junge werden, wenn er endlich alle Befehle der ewig belehrenden Erwachsenen befolgt und sich als arbeitender, von aufklärerischen Werten erfüllter Mensch in die Gesellschaft einfügt. Jegliche Naivität, jeder Spaß müssen verschwinden!

    In der Literaturwissenschaft ist man sich seit jeher uneinig, wie heftig Carlo Collodi tatsächlich auf dieser unbedingten Folgsamkeit beharrt oder ob er nicht genau sogar diesen gesellschaftlichen Drang zur Beherrschung der Kinder parodieren möchte. Jedenfalls hat Garrone in seiner Verfilmung des Stoffes die ewig repetitiven Belehrungen seitens der Erwachsenen in ihrer Härte ein ganzes Stück zurückgeschraubt und so gelingt dieser Neuverfilmung tatsächlich, ein etwas zeitgemäßeres Bild davon zu zeichnen, wie Pinocchio zur Vernunft und seiner Identität findet, auch wenn der Weg dorthin mit drastischen Lehrstücken gepflastert ist und die Holzpuppe im Grunde genommen gleich mehrfach sterben muss.

    Sieht einfach verdammt super aus: Matteo Garrone ist die bisher visuell eindrucksvollste "Pinocchio"-Verfilmung gelungen.

    Das eine zentrale Problem von Garrones „Pinocchio“ besteht unterdessen darin, wie all diese Hürden und Stationen aneinandergereiht werden. Die Neuverfilmung nimmt zwar einige Kürzungen und Straffungen vor, hält sich größtenteils aber fast sklavisch an die berühmte Vorlage. Nun ist Collodis Roman aber ein Werk, das nur bedingt einen größeren Spannungsbogen vorweisen kann, sondern eben nur aus vielen kleinen Abenteuern besteht, die aneinandergereiht werden. In einem knapp über zwei Stunden langen Film wird das schnell anstrengend, ziellos, mitunter sogar ein wenig langweilig. Der Großteil der Geschichte dürfte den meisten sowieso bekannt sein – und da auch diese Verfilmung keinerlei Überraschungen oder neue inhaltliche Überlegungen zu bieten. So wunderschön, wie das alles anzusehen ist, etwas zäh bleibt dieser „Pinocchio“ dann doch.

    Fazit: Matteo Garrones „Pinocchio“ ist die optisch bisher beeindruckendste Fassung der Geschichte und ein gekonnter Spagat zwischen märchenhaftem Familienfilm und Arthousekino. Wer die Geschichte kennt, bekommt in der durch ihre Episodenhaftigkeit etwas zäh geratenen Neuauflage allerdings nichts Neues serviert.

    Wir haben „Pinocchio“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er als Berlinale Special gezeigt wurde.

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