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    First Cow
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    First Cow

    Kuchenbacken im Wilden Westen

    Von Björn Becher

    First Cow“ ist ein Western – und beginnt doch mit einem modernen Transportschiff, das in einer langen, starren Kameraeinstellung von links nach rechts die Leinwand kreuzt. Es ist ein Western, in dem mehr gebacken (sehr viel) als geschossen (gar nicht) wird und zu dem auch eine Fachsimpelei über die aktuelle Pariser Mode gehört. „First Cow“ ist kein gewöhnlicher Western, doch einen solchen hätten wir von Kelly Reichardt auch ohnehin nicht erwartet. Die gefeierte amerikanische Indie-Regisseurin nutzt, wie vor ein paar Jahren bereits in „Meek’s Cutoff“, das Western-Setting, um amerikanische Wirklichkeit und Befindlichkeit abzugleichen – und stellt dabei diesmal eine Männerfreundschaft in den Mittelpunkt.

    Die eigentliche Geschichte spielt in den 1820er Jahren: „Cookie“ Figowitz (John Magaro) schlägt sich als Koch (daher auch sein Spitzname) für Trapper in Oregon durch, wobei ihn die harten Männer nicht für voll nehmen. Eines Nachts stolpert er über den nackt flüchtenden Chinesen King Lu (Orion Lee) und hilft ihm. Später kreuzen sich ihre Wege in der Bar eines Handelspostens erneut. Ohne große Worte zieht Cookie bei King Lu ein. Als sich der in der Nähe residierende britische Schnösel Chief Factor (Toby Jones) die erste Milchkuh der Gegend anschafft, träumt Cookie davon, was er mit der Milch alles backen könnte. King Lu überredet ihn, die Kuh nachts heimlich zu melken. Bald verkaufen die Geschäftspartner kleine Küchlein an die begeisterten Trapper – und auch der bestohlene Chief Factor selbst ist ganz angetan von Cookies Backkunst…

    Mit gestohlener Milch und Kuchen wollen die beiden Freunde reich werden.

    Die Handlung von „First Cow“ setzt in der Gegenwart ein, wo der Hund einer Spaziergängerin (Alia Shawkat) im Wald zwei Skelette entdeckt. Die Knochen halten Händchen, sind sie also womöglich die Überreste eines gemeinsam gestorben Liebespaares? Direkt danach führt uns ein Zitat des englischen Dichters William Blake in die richtige Richtung: „Dem Vogel ein Nest, der Spinne ein Netz, dem Menschen Freundschaft!“ Auch wenn es noch ein wenig dauert, bis die Außenseiter Cookie und King Lu zusammenfinden, wird durch diese Einleitung dann sofort klar, dass es der Anfang einer außergewöhnlichen Männerfreundschaft ist – die bis in den gemeinsamen Tod hinein geknüpft ist.

    Der Prolog ist so viel mehr als ein bloßer Verweis auf die zwei Zeitebenen der Vorlage von Reichardts langjährigem Co-Autor Jonathan Raymond (u. a. „Old Joy“, „Night Moves“). Der erzählt in seinem preisgekrönten Roman „The Half-Life“ nämlich auch noch parallel die Freundschaft zweier Mädchen in den 1980er Jahren. Dass Reichardt und der selbst an der Adaption beteiligte Raymond diese zweite Story wegfallen lassen, ist eine kluge Entscheidung, denn die Geschichte von Cookie und King Lu verdient die volle Aufmerksamkeit – auch dank der beiden herausragenden Hauptdarsteller ist die Geschichte dieser Männerfreundschaft bis hin zum emotionalen Schlusssatz nämlich unglaublich berührend.

    Spontan-WG im Wilden Westen

    Es dauert vielleicht etwas zu lang, bis „First Cow“ an den Moment kommt, an dem die Freundschaft so richtig beginnt. Aber dafür ist die entsprechende Szene auch ein wahres Meisterstück von Reichardt: King Lu lädt Cookie zu einem Drink zu sich ein, man hat angestoßen und dann schnappt sich der Gast den Besen, fängt an, die Wohnung zu fegen, pflückt auch noch einen behelfsmäßigen Blumenstrauß und platziert ihn in der Ecke. Ohne dass Worte gewechselt wurden, sind Männerfreundschaft und Wohngemeinschaft gleichsam für den Zuschauer und die beiden Protagonisten besiegelt.

    Das Weglassen ist bei Reichardt ohnehin immer wieder Programm – dass die Unterhaltung, ob man zusammenziehen möchte, einfach fehlt, fühlt sich da einfach richtig an. Dieses Elliptische zeigt sich auch in anderen Momenten. Da bittet ein Hüne in der Bar Cookie, für ihn auf ein Baby aufzupassen, während er selbst eine Kneipenschlägerei startet. Reichardt blendet nicht nur diese Prügelei aus, von der man nur Geräusche und unscharfe Fetzen im Bildhintergrund mitbekommt, irgendwann lässt dann auch Cookie das Baby einfach auf der Theke liegen und geht. Aufgegriffen wird das nicht mehr, es ist nur eine von vielen Absonderlichkeiten, mit denen der abgelegene Handelsposten im Film zum Leben erweckt wird.

    Die Kuh kommt...

    So bevölkern allerlei skurrile Gestalten die Szenerie, die teilweise nur an den Rändern der Geschichte vorkommen, darunter etwa ein von „Star Trek: Deep Space Nine“-Fanliebling Rene Auberjonois gespielter alter Mann mit Krähe oder ein von „Trainspotting“-Star Ewen Bremner verkörperter schottischer Handlanger des Chiefs. Es sind Figuren, die ganz nah an der Karikatur sind – so lockern sie das Geschehen zwar auf, lenken aber auch etwas zu sehr von der berührenden, trotz des etwas kuriosen Milchdiebstahls eigentlich durch und durch bodenständigen Männerfreundschaftsstory ab.

    Wie schon in „Meek’s Cutoff“ verweigert sich Reichardt auch diesmal wieder klassischen Western-Bildern, indem sie erneut auf beengende 4:3-Bilder statt auf große Cinemascope-Panoramen setzt. Immer wieder blockieren Objekte den Blick, wenn wir nicht direkt durch Fenster oder Türöffnungen wie zufällige Beobachter das Treiben betrachten. Ihr Western bietet so erneut keinen Raum für Lagerfeuer-Romantik, das Leben ist in erster Linie trostlos und hart. Die Menschen eint vor allem der vergebliche Traum, irgendwie reich zu werden, doch am Ende leben sie in der Gegenwart. Diese strenge Bildsprache öffnet die zweite Ebene von „First Cow“. Vordergründig ist es ein fast schon optimistischer Film über Freundschaft, doch daneben schafft es die Regisseurin einmal mehr, auch ohne viele Worte wahnsinnig viel auszusagen, der Realität Zutritt zu ihrem Milch-Märchen zu verschaffen.

    Historie und American Dream

    So fängt Reichardts Stammkameramann Christopher Blauvelt („The Bling Ring“, „Mid90s“) zwar immer wieder die Natur ein, aber statt ihrer Schönheit zeigt er die dichte Vegetation und den Fluss, die keinen Platz für die Menschen zu lassen scheinen. King Lu, der angeblich die Welt bereist hat, spricht von der Historie, die er an den Pyramiden in Ägypten spürte, die dieser Ort hier hingegen noch nicht habe. Doch der Film widerspricht ihm, denn nach und nach lässt Reichardt die Menschen auftreten, die gemeinsam mit der Natur auch der Einöde Oregons eine Geschichte geben: die Ureinwohner, fast zurückgedrängt, doch vereinzelt noch da. Wie ein stiller Kommentar sind sie gen Ende plötzlich mehrfach präsent.

    Reichardt geht in ihren Filmen immer wieder mit solchen Verweisen Amerika auf den Grund. Sie hinterfragt ihre Heimat. So träumen Cookie und King Lu auch den American Dream, nicht vom Tellerwäscher zum Millionär, aber von ihrer kleinen Holzhütte in Oregon zum eigenen Hotel in San Francisco. Doch wie viel Geld braucht man dafür? Wann haben sie genug Milch geklaut, genug Gebäck verkauft? Der typische Amerikanische Traum ist am Ende dann doch nur, möglichst reich zu werden. Doch wann ist man reich genug? Da obsiegt im Zweifel dann doch immer wieder Gier, sie lässt auch Cookie und King Lu weiter machen, selbst als die Luft immer enger wird. Und als Zuschauer ahnt man, dass sie irgendwann auffliegen werden, hat nur die Hoffnung, dass sie gemeinsam in Eintracht sterben werden, wie es die Händchen haltenden Knochen der ersten Filmminuten versprechen.

    Fazit: „First Cow“ ist ein berührend-poetischer Western über eine außergewöhnliche Männerfreundschaft, deren optimistische Geschichte und harschen Bilder in einem inspirierenden Spannungsverhältnis zueinander stehen.

    Wir haben „First Cow“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

     

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