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    Swimming Out Till The Sea Turns Blue
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Swimming Out Till The Sea Turns Blue

    China durch die Linse der Literaten

    Von Lucas Barwenczik

    Erst steinerne Gesichter und steinerne Körper, als Statuen für die Ewigkeit bewahrt. Dann Menschen aus Fleisch und Blut, die für ein warmes Mittagessen anstehen. Der Dokumentarfilm „Swimming Out Till The Sea Turns Blue” von Jia Zhangke („Asche ist reines Weiß”, „Mountains May Depart”) lebt genau von dem Kontrast, den seine ersten beiden Szenen zeigen. Auf der einen Seite große historische Ereignisse, durch die Zeit fern und unnahbar gemacht. Auf der anderen das einfache Menschliche und unmittelbar Erfahrbare.

    Als chinesischer Filmemacher der so genannten sechsten Generation wurde er bekannt mit einem Kino, in dem an echten Orten fiktive Geschichten erzählt werden. Seine Heimatstadt Fenyang und die Provinz Shanxi sind Dreh- und Angelpunkt seines Schaffens. Nicht umsonst trägt Walter Salles Dokumentarfilm über Jia den Titel „Jia Zhangke, A Guy from Fenyang“. In seiner ersten dokumentarischen Arbeit seit „I Wish I Knew“ aus dem Jahr 2010 ist es nicht anders. „Swimming Out Till The Sea Turns Blue” lässt die Geschichte eines Landes von seinen Landschaften erzählen – und von seiner Literatur.

    Die Literatur ist überall - auch in den Feldern.

    Für den Film interviewte Jia Zhangke vor allem Literaten aus verschiedenen Generationen, Menschen zwischen 14 und 91. In seine Heimat reisen sie, weil er dort seit 2017 ein Film- und seit 2019 ein Literaturfestival veranstaltet. Sie berichten von den großen Umwälzungen in China zwischen 1949 und 2019, die sie miterlebt und mit ihren Texten begleitet haben. Darunter sind vielfach übersetzte Prominente wie Jia Pingwa oder Yu Hua, aber auch Geheimtipps wie Liang Hong. Sie filtern die Geschichte in der Regel durch die persönlichen Erfahrungen, die sie gemacht haben. So geht es dann im selben Interview um die Kulturrevolution und die erste veröffentliche Kurzgeschichte. Um die Viererbande der Kommunistischen Partei und das Essen der Kindheit. Den japanisch-chinesische Krieg und ein lustiges Trinkgelage. Das Ergebnis ist ein Doppelporträt eines Landes und seiner Künstler.

    Eingangs fällt es schwer, den Schilderungen zu folgen – besonders dann, wenn man sich nicht intensiv mit der chinesischen Historie oder dem Agrarwesen des Landes beschäftigt hat. Auch ein Studium der Sinologie wäre sicher nützlich. Der Film ertrinkt schier in Anekdoten und Details, er ist ungemein geschwätzig. Jia Zhangke ordnet kaum ein und erklärt sehr wenig. Um eine reine, nachvollziehbare Geschichtsschreibung geht es ihm spürbar nicht. Es entsteht eher eine Textur der Zeit, ein Mosaik.

    Literatur entdecken

    Jia unterteilt den Film in 18 Kapitel von stark unterschiedlicher Länge, sie tragen Titel wie „Essen“, „Reise“ oder „Mutter“. Die Namen der Erzählenden werden kurz eingeblendet, was sie getan und geschrieben haben jedoch nicht. Am Ende jeden Abschnitts wird eine kurze Passage aus einem Roman oder Gedicht des jeweiligen Literaten vorgetragen – nicht von dem Autor oder der Autorin selbst, sondern oft von Unbekannten. Sie stehen dabei auf Feldern oder vor Flüssen. Jia Zhangke deutet an, woher die Texte kommen. Auf was sie sich beziehen. Das nicht professionelle Schauspieler und Sprecher die Prosa vortragen, passt zu der Vorstellung von Literatur des Films. Sie liegt in der Luft, in der Erde. Sie wird von den Menschen gemeinsam entdeckt.

    Jia Zhangke filmt die Interviews auf ungewöhnliche Weise. Statt sich auf den Gesprächspartner zu konzentrieren, lässt er viel Raum für die Landschaft und andere Menschen. Im Hintergrund wird gekocht, oder das alltägliche Gewusel der Straße zieht an der Kamera vorbei. Diese Szenen laden dazu ein, die eigentliche Hauptfigur jeder Szene aus den Augen zu verlieren. Er ist schließlich nur ein Mensch unter vielen. Unablässig wechselt die Einstellungsgröße: Totalen, Nahaufnahmen, Halbtotalen. Jia bringt Unruhe in die langen Monologe, verleiht ihnen Rhythmus und Dynamik. Oder versucht es zumindest – nicht immer passt die Montage zu der Entwicklung der Gespräche. Einige extreme Nahaufnahmen wirken befremdlich, als müsse um jeden Preis ein Gefühl von Nähe erzeugt werden. Das gelingt nur teilweise. Man bleibt den Befragten fremd, sie werden eher ein Chor von Stimmen denn greifbare Individuen.

    Verlust der dokumentarischen Unschuld

    Etwas aufdringlich ist die Musik, die den Film verkleistert. Opern- und Klassikstücke behaupten eine Dramatik, die wohl nur für die nachvollziehbar ist, die bei all dem dabei waren. Emotionen finden ihren Weg nur nach und nach in den Film. In den Gesprächen dringen auch halb verdrängte Familiengeschichten an die Oberfläche. Die drei oder vier Generationen, die hier vor der Kamera sitzen, stehen sich oft unversöhnlich gegenüber. Andere Erfahrungen bedeuten einen anderen Blick auf die Welt.

    Spannend sind dabei vor allem die Lücken, die sie in ihren Ausführungen lassen. Am Platz des himmlischen Friedens beispielsweise ist im Jahr 1989 offensichtlich nichts passiert. Betont wird lieber der wirtschaftliche Aufschwung in den Neunzigern. Achtet man auf solche Aussparungen, wirkt der Ansatz mit den unzusammenhängenden Nebensächlichkeiten schnell etwas weniger unschuldig.

    Ein Labyrinth aus Literatur

    Der Film leidet etwas unter einem Überschuss an Stilmitteln und Figuren: Voiceover und Interviews, Stadtaufnahmen und poetische Vorträge, Kapitel und schwer greifbare Schwarzblenden. Autoren, Familienmitglieder, Fremde. Eigentlich ist Jia selten ein Maximalist, seine Filme haben etwas Reduziertes und Realistisches. „Swimming Out Till The Sea Turns Blue“ wirkt überladen. Ein Ozean in einem Wasserglas. Vielleicht, weil die Erfahrung von Geschichte oft so ist? Überfordernd, verwirrend, unordentlich? Gut möglich. Doch Kunst ist immer auch ein Formen und Ordnen. Selbst das Chaos folgt im Kino Befehlen. Es ist schwer nachzuvollziehen, warum dieses wichtige Thema derart labyrinthisch präsentiert werden muss.

    Natürlich gelingen dem großen Filmemacher auch in diesem etwas unbefriedigenden Rahmen wunderbare Momente. Der Titel des Films erzählt von Veränderung und Verwandlung. Er fragt, was die Zeit übrig lässt von dem, was immer offensichtlich erschien. „Swimming Out Till The Sea Turns Blue“ - schwimmen, bis das gelbe Meer blau wird, bis die Zeit das eigentlich Unveränderbare umformt. Der Film ist am besten, wenn er nicht von Poesie erzählt, sondern selbst Poesie wird.

    Fazit: Ein etwas trockenes, nur sehr punktuell brillantes Zeitporträt. Doch unter der staubigen Oberfläche sind poetische Augenblicke zu finden.

    Wir haben „Swimming Out Till The Sea Turns Blue“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er als Berlinale Special gezeigt wurde.

     

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