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    Orphea
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Orphea

    Ein Kinoexperiment mit Pinguin-Orgie

    Von Lucas Barwenczik

    Die Mythen vergessen uns nicht. Alte Geschichten sind hartnäckig; sie neigen dazu, in immer neuer Form zurückzukehren. So ist es auch mit der von Orpheus, der nur mit Leier und Stimme bewaffnet in die Unterwelt stieg, um seine Geliebte Eurydike zu befreien. Wie könnte eine Geschichte tot bleiben, wenn sie selbst schon von der Rückkehr in die Welt der Lebenden erzählt? Seit einiger Zeit arbeitet der deutsche Regie-Veteran Alexander Kluge mit dem ungefähr halb so alten philippinischen Musiker und Künstler Khavn De La Cruz zusammen. Eine fruchtbare Partnerschaft, die zuletzt etwa das Kleinod „Happy Lamento“ hervorbrachte. Gemeinsam nehmen sie sich jetzt dem Orpheus-Mythos an. Das Ergebnis „Orphea“ ist ein wildes Film-Essay, ein chaotisches Durcheinander aus Animationen, Greenscreen-Theater und Abenteuerkino.

    Der Mythos wird dabei gleichzeitig nacherzählt und umgedeutet. Kapitelweise arbeitet sich der Film durch verschiedene Interpretationen der Vorlage, von Theaterstücken über Lyrik bis hin zu kulturwissenschaftlichen Analysen. Von der ersten Orpheus-Oper von Jacopo Peri bis in die Gegenwart. Von Dante Alighieri über Tschaikowski bis Theodor Adorno. Orpheus wird Orphea (gespielt von Lilith Stangenberg), Eurydike zu Euridiko – und auch sonst bleibt wenig beim Alten…

    Ein wenig scheint Lilith Stangenberg immer auch gegen ihre eigene Rolle zu rebellieren ...

    „Orphea“ ist ein unentwegt mit Bildern denkender Film. Er assoziiert wild alles Mögliche miteinander und sucht nach einem neuen Kontext für Vertrautes. Kluge und Kvhan begreifen den Mythos vor allem als einen, der vom Zurückholen und Wiederbeleben des Toten erzählt. So geht es im Film dann etwa um Renaissancen, also um die Wiederauferstehung alter Zeiten. Um gescheiterte Utopien wie die Pariser Kommunen. Oder um die menschliche Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Um russische Biokosmisten oder die Vordenker des Silicon Valley, welche die Grenzen des menschlichen Körpers nicht akzeptieren wollten.

    In vielen Kapiteln geht es auch um die Kunst an sich. Im Kino werden unbewegte (tote) Bilder lebendig, indem sie schnell hintereinander abgespielt werden. Der große schwedische Autorenfilmer Ingmar Bergman wird zitiert, für den die Kunst eine tote Schlangenhaut war, bewegt von Ameisen, die darin herumkrabbeln. Ist das Kino eine der toten Ideen, die zurückgeholt werden muss? Der Film leitet dann zu Werner Herzog und zu einer seiner berühmten Anekdoten über: Wie er einst beim Dreh von „Fitzcarraldo“ einen Arbeiter beobachtet hat, der sich nach einem Schlangenbiss das Bein mit einer Kettensäge abgetrennt hat. Man grübelt noch, was die Ideen von Bergman und Herzog verbindet, was sie zusammen ergeben, da geht es auch schon weiter. „Orphea“ ist ein schneller Film, der wenig Ruhe lässt. Er schleift den Zuschauer mit. In der Geschichte durfte sich Orpheus in der Unterwelt nicht umdrehen. Das versucht auch der Film zu vermeiden.

    Das erste Mal, dass PowerPoint tatsächlich Erkenntnis schafft

    So breit gefächert wie die Zitate und Inspirationsquellen sind auch die filmischen Mittel. Es gibt hektische Handkamera-Aufnahmen und Stop-Motionen-Sequenzen, Abfolgen von Standbildern und Vorführungen auf Theaterbühnen. Darsteller spielen Szenen nach, manchmal sprechen sie Dramentexte direkt in die Kamera. Einige Male gibt es ein Voiceover, zu dem ein Mensch, der offensichtlich nicht der Sprecher ist, seine Lippen bewegt. Es wird gesungen und getanzt, einmal wird gesteppt. Es gibt Texttafeln in verschiedenen Sprachen, etwa Deutsch und Tagalog. Viele der Schriftarten sind trashig, wie aus einer schlechten PowerPoint-Präsentation. Allgemein hat der Film etwas sympathisch Hemdsärmeliges. Nicht hingeschludert, aber wie in einer kleinen Werkstatt zusammengezimmert, weitab der großen Fabriken und Kaufhäuser.

    Wer nicht unbedingt Wert auf Kohärenz und durchgängigen Plot legt, sondern auch eine künstlerische und intellektuelle Nummernrevue akzeptieren kann, der hat durchaus seinen Spaß. Es ist kurzweilig, Kluge und Khvan beim Denken und Basteln zuzusehen. Sie machen ein Kino, das unentwegt neue Bilder liefert. Orgien mit Pinguinen und Ziegen. Männer, die sich in Puppen verwandeln und wieder Menschen werden. Ein musikalisches Duell zwischen Orphea und der so genannten „Läusekönigin“. Das Schauspiel von Lilith Stangenberg ist dabei stets einnehmend. Immerzu pendelt sie zwischen Strenge und Ernst, und einer fast kindlichen Verspieltheit. Einmal unterbricht sie sich mitten in einem dramatischen Vortrag und merkt an: „Irrer Text!“, erst kurz darauf wird geschnitten. Eine Szene, die andere Regisseure nicht im Film gelassen hätten.

    ... selbst wenn ihr zwischen den zahllosen Kostümwechseln eigentlich gar nicht so viel Zeit dazu bleibt.

    Hier ist es ein weiterer Beleg dafür, dass Darstellerin und Figuren ein wenig gegen den Film rebellieren. Sie muss zahllose Kostüme tragen, die sie nie ganz ernst zu nehmen scheint. Ernst genug, um den Szenen eine gewisse Kraft zu geben, um die enthaltene Idee greifbar zu machen. Aber nie so ernst, dass der Film unter der Schwere seiner Themen und Ideen erdrückt wird. Bis zuletzt. Denn gegen Ende findet das Regie-Duo dann noch einen letzten Anknüpfpunkt für den Orpheus-Mythos: die Flüchtlingskrise. Menschen, die der Hölle entkommen wollen. Sie dürfen nicht zurücksehen, sie reisen über das Mittelmeer wie über den Unterweltfluss Lethe.

    So ist „Orphea“ dann vor allem die Machtdemonstration einer Erzählung. Geschichten sind bei Kluge und Khvan wie DNA – schon der kleinste Teil von ihnen trägt das Potenzial in sich, alles zu werden und zu beschreiben. Man kann sie immer neu interpretieren, immer neue Aufgaben für sie finden. Vielleicht wäre das ein Grund, weniger über Remakes und Fortsetzungen zu jammern. Es kommt ja nur darauf an, was man mit Grundformeln anzufangen weiß. Wie man ihre Variablen oder die Leerstellen des Lückentexts auffüllt. Geschichten über die Kraft von Geschichten geraten oft ein wenig selbstgefällig. Dieser hier bleibt leicht und beschwingt. Spielerisches, luftiges Kunstkino. Ein Sonntagsspaziergang aus der Unterwelt ans Licht.

    Fazit: Ein rauschhafter Essay-Film, voll von visuellen und intellektuellen Einfällen. Gerade, weil diese Orphea mit verstimmter Laute schräge Lieder singt, folgt man ihr vergnügt bis in den Orcus.

    Wir haben „Orphea“ im Rahmen der Berlinale gesehen, wo er in der Sektion Encounters gezeigt wurde.

     

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