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    Living - Einmal wirklich leben
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Living - Einmal wirklich leben

    Maues Remake eines Kurosawa-Klassikers

    Von Janick Nolting

    Noch einmal so richtig leben. Die letzten Tage und Wochen genießen, bevor das Ende gekommen ist, das sich schon längst angekündigt hat. Meisterregisseur Akira Kurosawa hat diesem Vorhaben Anfang der 1950er einen bis heute viel gelobten Film gewidmet. In „Ikiru” zeigte er den Hauptdarsteller Takashi Shimura als sterbenskranken Büroleiter bei seinem letzten Versuch, einen positiven Abschluss für den eigenen Werdegang zu finden. 70 Jahre später greift nun der Autorenfilmer Oliver Hermanus diesen klassischen Stoff erneut auf und verlagert ihn in das London der Fünfzigerjahre. Aus „Ikiru” wird das englische Äquivalent „Living”. Dabei haucht dieser insgesamt recht einfallslosen Neuverfilmung allerdings nur „Tatsächlich… Liebe“-Star Bill Nighy in der Hauptrolle sowas wie Leben ein.

    Peter Wakeling (Alex Sharp) tritt seine Stelle in einem Londoner Verwaltungsbüro an und wird in die täglichen Arbeitsabläufe eingewiesen. Hier trifft er zum ersten Mal den berüchtigten Mr. Williams (Bill Nighy), der als kühler Griesgram verrufen ist. Was viele jedoch nicht wissen: Williams hat nicht mehr lange zu leben, er ist unheilbar krank. Irgendwann macht sich der Beamte einfach auf den Weg und flieht aus seinem Alltag, um in seine letzten Tagen doch noch das Glück zu finden…

    Bill Nighy ist das unbestrittene Highlight des Films – wirklich retten kann aber auch er ihn nicht.

    In seinem vorherigen Film „Moffie” erzählt Oliver Hermanus von einem jungen Homosexuellen, der zum Militärdienst eingezogen wird. Es war im Kern das Porträt einer geraubten Jugend. „Living” setzt dieses Narrativ in anderer Gestalt fort. Erneut erzählt Hermanus die Geschichte einer biographischen Lücke und eines sinnlosen Dahinvegetierens, wenn auch in einer ganz anderen Konstellation. Es ist das Ringen mit dem System, in dem man es sich selbst (allzu bequem) eingerichtet hat.

    „Living” ist dabei mit großer Akribie ausgestattet, um die miefige Bürowelt und das Wandeln in den vornehmen Kreisen seiner historischen Epoche wiederauferstehen zu lassen. Auf den Schreibtischen türmt sich das Papier. Den Stapel am besten immer bei einer bestimmten Höhe belassen, rät man dem Nachwuchs zu Beginn. So wirkt man immer beschäftigt. Auch der Büroalltag hat mit Schauspiel zu tun, um in den öden Verwaltungsabläufen bestehen zu können. Der versuchts Ausbruch aus diesen gerät dann allerdings allzu betulich…

    Eine eindringliche Gesangsnummer

    Allein Bill Nighys Darstellung verdankt dieser Film, dass er nicht komplett in der Bedeutungslosigkeit verschwindet. Die Klasse seiner Schauspielkunst erkennt man schon allein daran, dass es der Brite schafft, eine gewisse Tragik seiner Figur übermitteln zu können, obwohl dieser Mr. Williams in nur wenigen Momenten einen großen Auftritt spendiert bekommt, bevor er wieder in den Hintergrund tritt. Allzu verschwiegen und grummelig ist er, der sich nun plötzlich mit seiner inneren Leere auseinandersetzen muss. Nicht umsonst nennt man ihn heimlich Mr. Zombie.

    Die ganze angestaute Emotionalität, die unter dieser untoten Fassade lauert, darf sich in einer melancholischen Gesangsnummer in einer Bar bahnbrechen. Es ist die einprägsamste Szene im Film, wenn sich Bill Nighy diese musikalische Einlage mit wunderbar zurückhaltendem Agieren, mit belegter, brüchiger Stimme aneignet. Oliver Hermanus ist bei zweifellos ein Regisseur, der atmosphärische Bilder inszenieren kann. Sein neues Werk entfaltet seine Schauwerte in einer Ästhetik der Enge. Im 4:3 Format umschließen die Bilder ihre Figuren. Geschickt gesetzte Schattenwürfe verwandeln Gesichter in melancholisch dreinblickende Masken. Jedes Bild sieht aus wie eine sorgfältig arrangierte historische Fotografie.

    Immerhin nicht über 2 Stunden lang

    Die Zutaten stehen also bereit, um ein interessantes Charakterporträt zaubern zu können. Doch am Ende ist „Living” ein viel zu zahnloses, schnell vergessenes Dramolett geworden. Es gibt eine Sache, die hat Oliver Hermanus’ Neuverfilmung ihrer Vorlage voraus: Sie ist ein ganzes Stück kürzer. Hermanus nimmt sich nicht noch einmal über zwei Stunden Zeit, um seine Version von „Ikiru” zu erzählen. Das hat den Vorteil, dass sie mit weniger Durststrecken zu kämpfen hat und schneller zu demselben Punkt gelangt, für den der Kurosawa-Film noch Überlänge benötigte.

    Auf der anderen Seite offenbart „Living” damit eine gewisse Banalität und Einfallslosigkeit, die die Feinheiten in der Erzählweise, die in der bedächtigen Vorlage noch zu finden sind, vermissen lassen. Auf grundlegend neue Facetten hat Hermanus sowieso verzichtet. Da sind alle ikonischen Elemente hinübergerettet und lediglich in eine neue Ästhetik verpackt, inklusive der ikonischen Kinderschaukel aus Kurosawas Original.

    So leicht geht Reform?

    Besagte Schaukel verbildlicht das letzte Projekt des Protagonisten: den Bau eines Kinderspielplatzes. Der Film thematisiert damit die Aussicht auf ein besseres Leben, die man an die nachfolgenden Generationen weitergeben möchte. Eine finale Sinnstiftung, nachdem man allzu viele Chancen verpasst hat, aus dem eigenen begrenzten Weltbild auszubrechen. Aber ist damit wirklich eine ergiebige Gesellschaftskritik formuliert? „Living” und „Ikiru” eröffnen die Frage, ob sich das positive Exempel ihrer Protagonisten auch auf andere Menschen übertragen lässt. Doch es fehlt gerade in diesem Remake ein Angriff auf die Substanz, die grundlegenden Strukturen. Man beschwört die naive Fantasie einer besseren Welt, sofern nur die richtigen Personen ihr Denken ändern.

    Dabei hat eigentlich schon der Originalfilm deutlich gemacht, wie schwer ein Ausbruch oder auch nur eine Reform in diesem System ist, in dem sich die Büroangestellten bewegen. „Living“ misslingt, diesen Gedanken noch einmal weiterzuspinnen. Oliver Hermanus und Drehbuchautor Kazuo Ishiguro versuchen stattdessen allein, die universelle Melancholie des Vorbildes zu kopieren, haben dabei aber einen allzu menschelnden, berechenbaren Film erdacht. Hermanus verzichtet noch nicht einmal darauf, sein Drama irgendwann mit plattem Gefühlskitsch zu übergießen. Man kann nur hoffen, dass sie gut entlohnt wurden: die Pianisten, die da im Hintergrund unentwegt sentimentale Melodien klimpern müssen, um ihrem Publikum wenigstens ein paar Krokodilstränen aus den Drüsen zu pressen.

    Fazit: Oliver Hermanus hat mit „Living“ eine hübsch bebilderte, aber letztlich einfach nur abgespeckte, uninspirierte Neuauflage zu Akira Kurosawas „Ikiru“ gedreht. Da kann selbst ein singender Bill Nighy nicht mehr viel retten.

    Wir haben „Living“ beim Filmfestival in Venedig gesehen, wo er außer Konkurrenz als Teil des offiziellen Programms gezeigt wurde.

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