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    Last Resort
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Last Resort
    Von Jörn Schulz

    Wer sagts denn: Das wahre Leben liefert doch immer wieder exzellentes Rohmaterial für ergreifende und prächtige Filme. Das dokumentarische Liebesdrama „Last Resort“ von Regisseur Pawel Pawlikowski (My Summer Of Love) ist so ein Beispiel. Auf autobiographischen Wurzeln basierend, hat Pawlikowski einen Film angefertigt, der eine rührende Liebesgeschichte mit dem Schicksal von Asylbewerbern in Großbritannien verbindet. Das Drama ermöglicht einen tiefen Einblick in den tristen Alltag sowohl von Asylbewerbern aber auch von gestrandeten Existenzen in einer zum Auffanglager umfunktionierten Ferienanlage an der Südküste Englands. Dank der unprätentiösen Erzählweise und einer beeindruckenden Kameraführung gelang es, eine Geschichte auf Zelluloid zu bannen, die weniger das realistische Elend von Flüchtlingen wiedergeben will, die aber dennoch zum Nachdenken über deren Situation anregt.

    Die junge Russin und Kinderbuchillustratorin Tanja (Dina Korzum) sowie ihr 12-jähriger Sohn Artiom (Artiom Strelnikov) sitzen am Londoner Flughafen. Sie warten darauf, von Mark, Tanjas Verlobtem, abgeholt zu werden. Als dieser nicht aufkreuzt und die Behörden mit sofortiger Ausweisung drohen, da Tanja keine Touristin zu sein scheint, beschließt die junge Frau spontan, politisches Asyl zu beantragen. So können ihr Sohn und sie bleiben und herausfinden, was mit Mark geschehen ist. Wie viele andere Asylbewerber auch werden sie ans Meer in die alte, verlassene Ferienanlage „Stoneheaven“ gebracht, die als Auffanglager dient. Nach einigen Anrufen bei Mark offenbart er ihr, dass aus der Hochzeit nichts werden wird, er sie doch nicht heiraten will. Für Tanja bricht eine Welt zusammen. Kein Geld, keine Rechte, keine Pässe – am liebsten würde sie sofort nach Russland zurück. Doch so einfach kann man der hermetisch abgeschlossenen und bestens überwachten „Ferienanlage“ nicht entkommen. Für 300 Pfund könnten sie und ihr Sohn mithilfe von Schleusern fliehen. Doch woher das Geld nehmen? Da Tanja ohne Arbeitsgenehmigung nicht legal arbeiten darf, fällt sie zwei schmierigen Cybersex-Anbietern in die Hände, die ihr „Safer Sex“ und gutes Geld versprechen. In ihrer tiefsten Krise lernt Tanja den Spielarkaden-Manager und Bingoausrufer Alfie (Paddy Considine) kennen, der sich in sie verliebt und ihr und Artiom helfen will, aus dem Auffanglager zu fliehen. Schon bald muss Tanja sich entscheiden: Soll sie ein neues Leben mit Alfie beginnen oder nach Russland zurückkehren?

    „Last Resort“ – der englische Titel ist so vieldeutig und dicht, dass der deutsche Filmverleiher Peripher gut daran getan hat, ihn nicht durch eine schlechte Übersetzung zu verunstalten, sondern ihn einfach zu übernehmen. „Last Resort“ steht sowohl für den „letzten Ausweg“ und die „letzte Zuflucht“, die Tanja und ihr Sohn sehen, um in Großbritannien bleiben zu können. Dabei sind sie gar nicht als Asylbewerber auf die Insel gekommen, sondern aus Liebe zu einem Mann, der Tanja nach ihrer Ankunft abweist. „Last Resort“ steht aber auch für den „(aller)letzten Urlaubsort“, der Stoneheaven einst war. Ein riesiger, uncharmanter Plattenbau dient als Unterkunft, und außer viel Beton und etwas Küste ist nichts zu sehen. Die ehemalige Ferienanlage wirkt heruntergekommen und ist lediglich noch ein Auffangbecken für Schiffbrüchige und Außenseiter der britischen Gesellschaft. Die Küstenanlage als Sackgasse für Einheimische und Asylbewerber - metaphorisch ein ganz großer Wurf.

    Die Atmosphäre im Film ist bedrückend und wenig hoffnungsvoll, was visuell durch ein Wechselspiel zwischen statischen, weitwinkligen Aufnahmen und Sequenzen mit subjektiver Handkamera grandios umgesetzt wurde. Letztere Bilder verleihen dem Film auch seinen dokumentarisch anmutenden Charakter, der unweigerlich an das Doku-Drama „Flug 93“ denken lässt. Aufgebrochen wird die düstere Stimmung durch Tanjas Auftreten und die Dickköpfigkeit ihres Sohnes Artiom, der mit seinen neunmalklugen Hinweisen und Ratschlägen immer wieder für Lachernachschub sorgt. Die vielen Preise, mit denen der Film seit Erscheinen im Jahr 2000 bedacht wurde (u.a. Bester Film beim Gijon Film Festival in Spanien sowie Bester Film, Beste Schauspielerin und Bester Schauspieler beim Edinburgh Film Festival), scheinen gerechtfertigt. „Last Resort“ versteht auf eine subtile Weise, zwei weit auseinander liegende Themen – die Liebe und die Migration – so geschickt zu verknüpfen, dass man durch das eine unweigerlich zum Reflektieren über das andere angehalten wird.

    In der Kürze liegt die Würze: Der gerade einmal 75-minütige Streifen, der im Originalton (Englisch und Russisch) mit Untertiteln ins Kino kommt, belastet nicht durch weitschweifende Verästelungen der Handlung. Die Schauplätze können an einer Hand aufgezählt werden, der Film dreht sich vornehmlich um die Mutter-Sohn-Beziehung sowie die erwachende Verbindung zwischen Tanja und Alfie. Ziemlich zielgerichtet und direkt bewegt sich „Last Resort“ auf ein Ende hin, dass wenig romantisch sein mag, aber dennoch wie eine Entdeckungsreise ins Innerste der Protagonistin anmutet.

    Mit seinem dokumentarischen Liebesdrama „Last Resort“, das den ersten Teil einer angedachten Trilogie in Zusammenarbeit mit BBC Films darstellt, legt Regisseur und Drehbuchautor Pawel Pawlikowski einen kompakten und intensiven Film über das Verhältnis von Liebe und Migration dar. Wacklige Handkameraaufnahmen gehen Hand in Hand mit einprägsamen, stillen Bildern. Der Film, das zu einem guten Teil auch als Migrantendrama gelten kann, verquickt auf eine subtile Art die westliche Vorstellung von der großen Liebe und die nüchterne Ansicht von der Vernunftbeziehung, überlässt es aber dem Zuschauer, Präferenzen zu setzen.

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