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    Fallende Blätter
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Fallende Blätter

    Der vielleicht schönste Rücktritt vom Rücktritt der Kinogeschichte!

    Von Michael Meyns

    Eigentlich hatte er das Filmemachen schon ad acta gelegt: Der 2017 bei der Berlinale gezeigte „Die andere Seite der Hoffnung“ sollte der letzte Film des damals 59-jährigen Aki Kaurismäki sein! Vermutlich wurde dem Meisterregisseur („Vertrag mit meinem Killer“, „Der Mann ohne Vergangenheit“) das Rentnerdasein dann aber doch zu langweilig – und auch die Bars, die er gemeinsam mit seinem ebenfalls als Regisseur tätigen Bruder Mika in Helsinki betreibt, lasteten ihn offenbar nicht voll aus.

    Da lag es einfach nahe, doch noch einen Film zu drehen, sich noch einmal in die typisch-tragikomische Kaurismäki-Welt zu begeben, in der typisch-tragikomische Kaurismäki-Figuren typisch-tragikomische Kaurismäki-Sätze sagen. „Fallen Leaves“ ist so durch und durch Kaurismäki, dass man glaubt, viele Szenen schon zu kennen. Ein ganz und gar eigenes Œuvre hat der Finne so in den vergangenen 40 Jahren geschaffen – eines, das zwar mit jedem Film irgendwie noch mehr wie aus der Zeit gefallen wirkt, aber nichtsdestotrotz ein ums andere Mal begeistert!

    Schon bevor Ansa (Alma Pöysti) und Holappa (Jussi Vatanen) das erste Mal dne Mund aufmachen, weiß man sofort: Ja, das sind die Kaurismäki-Figuren, wie wir sie kennen und lieben!

    Ansa (Alma Pöysti) arbeitet in der finnischen Hauptstadt Helsinki in einem Supermarkt. Sie räumt Regale ein, wirft abgelaufene Lebensmittel weg, fegt den Boden. Zu Hause hört sie im Radio die Nachrichten vom Krieg in der Ukraine, bereitet sich Essen in der Mikrowelle zu und wartet… Nur worauf? Vielleicht ja auf Holappa (Jussi Vatanen), der sich wie Ansa ebenfalls am Rande der Gesellschaft bewegt, auf einer Baustelle im Container lebt, gelegentlich mit seinem Kumpel in eine Karaoke-Bar geht – und Alkoholiker ist. Der Zufall sorgt dafür, dass die einsamen Seelen sich über den Weg laufen. Doch bis sie wirklich zusammenfinden, hat das Schicksal ihnen noch einige Hürden in den Weg gestellt…

    Vor genau 40 Jahren kam mit „Schuld und Sühne“ der erste Spielfilm des damals gerade einmal 26 Jahre alten Aki Kaurismäki in die finnischen Kinos. Schnell folgten Einladungen zu immer wichtigeren internationalen Festivals – und so sind es eben gerade auch die Filme von Kaurismäki, die für viele Zuschauer*innen das Bild von Finnland in den letzten Dekaden maßgeblich mitgeprägt haben. Anfangs bildeten seine Filme wie „Calamari Union“, „Schatten im Paradies“ oder „Ariel - Abgebrannt in Helsinki“ auch noch weitestgehend die finnische Realität ihrer jeweiligen Entstehungszeit ab – zumal Finnland durch seine spezielle Verbindung zur Sowjetunion in seiner wirtschaftlichen Entwicklung dem Rest der EU stets ein Stück hinterherhinkte. Inzwischen ist Finnland aber natürlich längst modernisiert, sind die Innenstädte kaum noch von denen anderer westlicher Städten zu unterscheiden – was die Filme von Kaurismäkis nur umso anachronistischer und eben wie aus der Zeit gefallen wirken lässt.

    Kaurismäkis lakonisches Kinoparadies

    Auch in „Fallen Leaves“ sieht die gezeigte Welt aus wie von gestern. Die Hörer der Festnetztelefone sind tatsächlich noch per Schnur mit dem Apparat verbunden, die Radios sehen aus wie aus den 1950ern, die Kleidung wirkt kaum moderner und einen Fernseher bekommt man nie zu sehen. Wenn am Ende ein Telefonat am Handy geführt wird (vielleicht das erste Mal in einem Kaurismäki-Film?), dann sind die Geräte natürlich keine iPhones, sondern sehen aus wie Nokia-Knochen der maximal zweiten Generation. Nicht in der finnischen Realität spielt dieser Film also, sondern in der von Kaurismäki. In der leben einsame Menschen, die ihr Schicksal stoisch ertragen und wenn sie mal den Mund aufmachen, was ohnehin nur sehr selten vorkommst, meist nur lakonische Sentenzen von sich geben.

    Diese Menschen singen in Karaoke-Bars Schubert-Lieder, sehen im Kino Jim Jarmuschs Zombie-Komödie „The Dead don’t Die“, nur um danach anzumerken, dass sie dieser Film an Robert Bressons „Tagebuch eines Landpfarrers“ erinnert“. Immer wieder meint man, Dialoge schon aus früheren Kaurismäki-Filmen zu kennen – ebenso wie die Drehorte, von den auf eine so unverkennbare Art herunterkommenden Bars, über die kargen Wohnungen, bis hin zu den Fabriken und Supermärkten, die ganz gewiss nicht dem finnischen Standard von 2023 entsprechen.

    Im Kino wird Jim Jarmusch geschaut – und dann mit Robert Bresson verglichen! Aki Kaurismäki hat eben seine ganz eigene Vorstellung von Popkultur.

    Auch Woody Allen hat im Laufe der Jahre immer wieder Variationen desselben Stoffes gedreht, diese aber meistens dennoch unverkennbar in der Gegenwart ihrer Entstehungszeit verankert. Die Filme von Aki Kaurismäki scheinen hingegen immer irgendwann in den 1980ern zu spielen und Menschen zu zeigen, die schon damals irgendwie aus der Zeit gefallen waren. Wenn er nun also bewusst mehrere Male im Radio den Ukraine-Krieg anklingen lässt und Ansa von ihrem Null-Stunden-Job als moderner Erfindung des Sozialstaates spricht, dann muten solche Brüche besonders extrem an. So entsteht jene lakonische Zeitlosigkeit, die Kaurismäki zu einem der unverwechselbarsten Regisseure der letzten Jahrzehnte gemacht haben.

    Das liegt nicht nur am Look, sondern auch schlicht daran, das sich der wohl durchaus bockige Filmemacher in den 40 Jahren seiner Karriere – zumindest auf den ersten Blick – nicht einen Schritt entwickelt hat: Keine Kamerafahrten, keine schnellen Schnitte, kein Breitwand, nichts, das auf filmische Techniken von 2023 hindeutet. Doch was altmodisch, ja veraltet wirken könnte, wirkt auch in „Fallen Leaves“ so frisch, ungewöhnlich und originell wie am ersten Tag. Und darin liegt die besondere, einzigartige Qualität von Aki Kaurismäki, einem Regisseur, der sich komplett jeder Entwicklung entzieht, der Auftritte auf Festivals allenfalls störrisch über sich ergehen lässt, der seit vier Jahrzehnten einfach sein Ding macht und nichts anderes. Aber warum sollte man die Dinge auch krampfhaft verändern, wenn sie doch so wundervolle Filme wie „Fallen Leaves“ hervorbringen?

    Fazit: Dieser Rücktritt vom Rücktritt ist ein absoluter Glücksfall fürs Kino! In „Fallen Leaves“ macht der finnische Meister-Melancholiker Aki Kaurismäki zwar nur einmal mehr exakt das, was man nach seiner 40-jährigen Kino-Karriere von ihm erwartet – aber das mit einer tragikomischen, zutiefst berührenden Brillanz, die alles andere als repetitiv, sondern absolut einzigartig und zeitlos ist.

    Wir haben „Fallen Leaves“ beim Cannes Filmfestival 2023 gesehen, wo er in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde. (Anm. des Redakteurs: In der ersten Fassung des Textes hat unser Autor einen so schönen freudschen Tippfehler eingebaut, dass wir ihn euch trotz Redigat nicht vorenthalten wollen – da war Kaurismäki nämlich nicht mit seinem Rentnerdasein, sondern vielmehr mit seinem Rentierdasein unzufrieden.)

     

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