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    Tödliche Entscheidung - Before the Devil Knows You're Dead
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Tödliche Entscheidung - Before the Devil Knows You're Dead
    Von Carsten Baumgardt

    Fünf Mal war Regie-Veteran Sidney Lumet insgesamt für einen Oscar nominiert. 2005 hatte die Academy endlich ein Einsehen und honorierte den Mann aus Philadelphia mit einem Ehrenoscar. Das ist der gewöhnliche Weg für erstklassige Filmemacher, denen zu Lebzeiten - unter welchen Umständen auch immer - ein verdienter Goldjunge verwehrt blieb. Sehr ungewöhnlich ist jedoch die Antwort, die Lumet darauf gibt: Der Oldtimer (Jahrgang 1924) bringt 83-jährig mit dem abgrundtief düsteren Thriller-Melodram „Before The Devil Knows You’re Dead“ (deutsch plump „Tödliche Entscheidung betitelt“) ein kleines Indie-Wunderwerk an den Start, das sich in punkto Qualität mit Lumets Klassikern messen kann. Das verdient großen Respekt.

    Top-Buchhalter Andy Hanson (Philip Seymour Hoffman) lebt ein luxuriöses Leben im sündhaft teuren Manhattan, hat eine hübsche Frau (Marisa Tomei) und auch alles andere scheint perfekt zu laufen. Doch unter der makellosen Oberfläche treibt ihn eine böse Spiel- und Heroinsucht um, die trotz bestem Verdienst zu Geldproblemen führt. Die Lösung dieser Misere hat Andy sauber ausgeheckt. Sein kühner Plan sieht vor, das Juwelengeschäft seiner Eltern Charles (Albert Finney) und Nanette (Rosemary Harris) auszurauben, Beute im Wert von 600.000 Dollar abzukassieren und die Versicherung den Schaden für seine Erzeuger ersetzen zu lassen. Erfüllungsgehilfe ist sein chronisch geldklammer Bruder Hank (Ethan Hawke), der den Überfall durchführen soll. Doch der geschiedene Loser, der sehr darunter leidet, dass er nur schwerlich für den Unterhalt seiner Tochter aufkommen kann, bekommt kalte Füße. Anstatt wie verabredet mit einer Spielzeugwaffe in den Laden zu marschieren, heuert er einen Dritten an, um die Tat auszuführen. Das geht gewaltig schief. Der angeworbene Tagedieb Bobby (Brian F. O'Byrne) versaut den Raub kräftig, es kommt zum Schusswechsel mit Nanette, die eigentlich laut Dienstplan gar nicht im Geschäft sein sollte. Das Resultat: ein Blutbad, keine Beute... und jede Menge Probleme, die schnell monströse Ausmaße annehmen…

    „May you be in heaven half an hour, before the devil knows you’re dead.“ (Alter irischer Trinkspruch)

    Um Lumet war es ruhig geworden. An seine Großtaten Hundstage, Serpico, Network, Die 12 Geschworenen oder The Verdict konnte der Oldie 2006 mit Find Me Guilty nicht mehr anknüpfen, drehte zuvor gar für das Fernsehen und zuletzt 1997 mit „Nacht über Manhattan“ etwas von Relevanz. Weil seine Erfolge eine Ewigkeit zurückliegen, reißen sich die Produzenten nicht gerade um Lumet, der deshalb ins Independent-Kino ausweichen musste. Apropos Indie: Es ist mal wieder ein Segen, dass es diese Sparte von unabhängig produzierten Filmen gibt. Hier muss keine Rücksicht auf kommerzielle Interessen und Sehgewohnheiten genommen werden, dazu darf der großartige Philip Seymour Hoffman die Hauptrolle spielen und Erwartungen eines Publikums haben hinten anzustehen. Lumet kann sich ganz der Umsetzung von Kelly Mastersons brillantem Debüt-Drehbuch widmen. Bereits die Eröffnungssequenz, die den beleibten Hoffman im leidenschaftlichen Softcore-Clinch mit Filmpartnerin Marisa Tomei zeigt, wäre im kommerziellen Kino nicht denkbar. Natürlich ist „anders“ nicht gleich ein Qualitätsmerkmal, aber eine gute Voraussetzung, die Lumet famos zu nutzen weiß.

    Es wimmelt in „Before The Devil Knows You’re Dead“ nur so von hochinteressanten Figuren, die Lumet in detailreichen, düsteren Settings in einer steilen Abwärtsspirale in die finsteren Dimensionen einer großen griechischen Tragödie befördert. Selbst wenn der Zuschauer vermutet, es kann nicht weiter bergab gehen, stellt sich dies immer wieder als trügerischer Schluss heraus. Das Drama erlangt eine Bitterkeit, wie sie in den vergangenen Jahren selten zu sehen war. Weil die hochgradig ambivalenten Charaktere aber von Belang sind, wird der Betrachter in einen Sog gezogen, dazu gezwungen, dem Schicksal der Gepeinigten zu folgen. Aber selbst unter der offensichtlichen Geschichte, die Lumet elegant in verschiedenen Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven heraus erzählt, tun sich unerwartete Abgründe auf, die zusätzlich für Spannung sorgen. Das Verhältnis der Familie Hanson, das vordergründig trotz aller Probleme intakt ist, ändert sich durch ans Tageslicht kommende Geheimnisse permanent.

    „Before The Devil Knows You’re Dead“ ist klassisches Schauspielerkino. Ein großartiges Drehbuch, das in seiner Dichte an die Künste eines jungen David Mamet (Glengarry Glen Ross, Wag The Dog, The Verdict) erinnert und eine inspirierte Regie des Altmeisters Lumet liefern die Steilvorlage, die Philip Seymour Hoffman (Capote, Boogie Nights, Der Krieg des Charlie Wilson) erneut zu einer Ausnahmeleistung nutzt. Sein Charakter hat die Züge einer extrovertierten Version seines Spielsüchtigen aus Owning Mahowny, die jedoch bis an die Grenzen der Belastbarkeit des Zuschauers ausgedehnt werden. Doch Hoffman ist clever genug, sein großspuriges Spiel so zu dosieren, dass die überragend vorgetragenen Ausbrüche nicht Oberhand gewinnen und seinen Mitspielern damit der Raum genommen wird. Dazu darf Marisa Tomei (Was Frauen wollen) beweisen, dass sie auch mit 43 Jahren noch sexy sein kann. Ethan Hawke (Reality Bites, Before Sunrise, Before Sunset), der als duckmäusiger Verlierer konsequent gegen den Strich besetzt ist, behauptet sich mit dezentem Spiel - selbst wenn er in dieser „Disziplin“ noch von Albert Finney (Erin Brockovich) übertroffen wird, der als zweiter Storymotor den Dingen, die sich immer mehr zuspitzen, auf den Grund geht. Schicht für Schicht blättert der Lack von den Protagonisten ab, bis sie emotional nackt dastehen und der schonungslose Existenzkampf bittere Opfer fordert. Die Storytwists, die Masterson dabei setzt, sind präzise und zumeist angenehm unvorhersehbar.

    Fazit: Aus der Kleinigkeit eines missglückten Raubüberfalls konzipiert Regie-Altmeister Sidney Lumet in „Before The Devil Knows You’re Dead“ ein hochkomplexes, bösartig-düsteres Charakterporträt, das allen Freunden des klassischen Independent-Kinos wärmstens ans Herz gelegt sei. Wer sich auf einen „emotionalen Horrorfilm“ einlassen und Menschen am Rande des Abgrunds in ihr Verderben taumeln sehen kann, der sollte für diese Genreperle unbedingt eine Kinokarte lösen.

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