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    Frantic
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Frantic
    Von Stefan Ludwig

    Roman Polanskis Leben ist mit Schicksalsschlägen und Skandalen gespickt. Seine Mutter kam im Konzentrationslager um, seine hochschwangere Frau Sharon Tate wurde von einem Anhänger der Manson-Sekte ermordet und später war er in einen Sex-Skandal verwickelt. Davon mag man halten, was man will – sein Filmwerk ist legendär. In den vergangenen Jahren drehte er jedoch nicht mehr viel: Nach dem gefeierten Der Pianist legte er erst vier Jahre später mit Oliver Twist den nächsten Film nach. Die Charles-Dickens-Verfilmung konnte zwar begeistern, in ihrer Intensität bleibt sie jedoch hinter seinen größten Filmen zurück. „Frantic“ von 1988 zeigt Harrison Ford als Mittelpunkt eines Entführungsdramas. Hier gelingt es Polanski, mit einer gut strukturierten Story und ebenso aufgelegten Darstellern ein packendes Thriller-Drama zu zeichnen.

    Der Arzt Dr. Richard Walker (Harrison Ford) schlittert durch Zufall in ein Komplott: Am Pariser Flughafen verwechselt man seinen Koffer, seine Frau Sondra (Betty Buckley) verschwindet plötzlich spurlos aus dem Hotelzimmer. Auf der Suche nach ihr stolpert er über die Leiche von Dédé (Böll Boyer). Die junge Französin Michelle (Emmanuelle Seigner), deren Koffer vertauscht wurde, scheint Walker den Weg zu seiner Angetrauten zeigen zu können. Die beiden begeben sich in Paris auf eigene Faust auf Spurensuche. Schnell stellt sich heraus, dass in dem Koffer von Michelle etwas sehr Wertvolles war.

    Die im Kern simpel angelegte Geschichte weiß zu begeistern: Während der Zuschauer zunächst die Geschäftsreise des Ehepaars Walker sieht, ist er bald Teil eines spannenden Dramas. Das Verschwinden von Sandra Walker kann sich zunächst niemand erklären. Doch schnell wird offensichtlich, dass Kriminelle am Werk waren. „Frantic“ legt seinen Focus auf Suspense, dieses Konzept geht voll auf. Diese Art von Spannungsbögen war schnell zu Polanskis Markenzeichen geworden. Das Interessante an „Frantic“ ist zu Beginn das Ereignis, das nicht zu sehen ist: Ist Sondra Walker tatsächlich entführt worden, wie ein Betrunkener Richard Walker zu vermitteln versucht? Genau wie er kann der Zuschauer das erst einmal nicht glauben.

    Der verzweifelte Ehemann steht im Mittelpunkt des Interesses. Er verlässt sich nur auf sich selbst und lässt die Polizei aus dem Spiel; schnell wächst er in der Notsituation über sich selbst hinaus. Harrison Ford liefert in dieser Rolle eine der besten Darstellungen seiner Karriere ab. Da sich die Kamera fast immer auf sein Gesicht richtet, kann er voll aufspielen. Wenn er mit seinen Kindern telefoniert und ihm die Tränen übers Gesicht laufen, ist seine Hilflosigkeit sichtbar und lässt den Zuschauer mitfühlen.

    Emmanuelle Seigner verblasst als toughe Französin ein wenig neben Fords perfektem Spiel. Doch auch sie kann durch ihre Gelassenheit und ihr beeindruckendes Äußeres punkten. Ihre Rolle hilft bei dem überzeugenden Spiel, behält sie doch oft die Oberhand auch in schwierigen Situationen: Genau wie Walker gerät sie kaum in Verlegenheit, sondern weiß stets, was zu tun ist. Das Ex-Model Emmanuelle Seigner erhielt die Rolle dank ihrer Beziehung mit Roman Polanski. Die beiden heirateten ein Jahr nach den Dreharbeiten und ziehen heute gemeinsam ihre Tochter Morgane und ihren Sohn Elvis auf.

    Die Regiearbeit von Roman Polanski ist gleichsam sparsam wie grandios. Besonders begeistern kann eine Szene, in der Walker auf dem Dach herumturnt. Er versucht durchs Fenster in Michelles Wohnung einzusteigen, dabei verschüttet er jedoch den Inhalt des Koffers. Jede Actionsequenz ist hervorragend aufgenommen: Der Zuschauer wird stets direkt in den Mittelpunkt des Geschehens gestellt und kann so alles hautnah miterleben.

    Ergänzt wird Polanskis famose Regie von der Kameraführung Witold Sobocinskis. Die konzentriert sich auf die Darstellung der Figuren, die in „Frantic“ über sich selbst hinauswachsen müssen. Trotz des Misserfolges der Komödie „Piraten“ war Polanski Sobocinski treu geblieben. Der kommerzielle Flop aus dem Jahr 1986 war sein einziger Film zwischen 1979 und 1986; so drohte seine Karriere im Sande zu verlaufen. Das hing zusammen mit einer schwerwiegenden Anklage: Polanski war in den Vereinigten Staaten der Vergewaltigung einer Minderjährigen unter Zuhilfenahme von Drogen verdächtigt. Er legte ein Teilgeständnis ab, floh jedoch ins Exil nach Paris, da ihm eine langjährige Haftstrafe drohte. Seitdem lebt er in Frankreich und Polen. So ist es kein Zufall, dass „Frantic“ in der französischen Metropole spielt.

    Mit „Frantic“ wollte sich Roman Polanski deshalb selbst beweisen: Nach massiven privaten Problemen und einem Misserfolg an den Kinokassen, versuchte er ein Comeback. Das Drehbuch schrieb er in seiner Wahlheimat selbst. Bezeichnend ist außerdem seine Ehe mit Hauptdarstellerin Emmanuelle Seigner. Offenbar fand er in ihr die Frau, von der er mehr wollte, als sporadischen Sex: „Alles was ich wollte, war ein Mädchen flachzulegen und zum nächsten weiterzuziehen." So beschrieb er sich selbst in seinen jungen Jahren.

    „Frantic“ weiß in vielerlei Hinsicht zu überzeugen: Ausgezeichnete Hauptdarsteller, bis in die Nebenrollen akkurat besetzt, von einem der besten Regisseure der Gegenwart gedreht und mit einer packenden Story ausgestattet. Die von Ennio Morricone komponierte Musik liefert den passenden Score. Auf dem heutigen Kinomarkt hätte ein derart ruhig konzipiertes Drama kaum eine Chance; wirklich schade. Im Jahre 1988 schrieb der Spiegel: „’Frantic’ ist die Fortsetzung Hitchcocks mit Polanskis Mitteln. Und das, weil er es meisterhaft versteht, eine richtige Taste in der kollektiven Seelenklaviatur der Angst anzuschlagen.“

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