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    Horror-Geheimtipp feiert heute TV-Premiere: Dieser saustylische Selbstjustiz-Reißer wischt mit der "Purge"-Saga den Boden auf
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Sein erster Kinofilm war Disneys „Aladdin“. Schon in der Grundschule las er Kino-Sachbücher und baute sich parallel dazu eine Film-Sammlung auf. Klar, dass er irgendwann hier landen musste.

    Stylisch, extrem zornig, rasiermesserscharf beobachtet und gerissen argumentiert: „Euphoria“-Macher Sam Levinson drehte mit „Assassination Nation“ einen Film, der einem brennenden Streichholz über einem Benzinkanister gleicht. Heute läuft er im TV!

    +++ Meinung +++

    Gesellschaftliche Doppelmoral, der erschreckende Wille, auf rücksichtslose Gewalt zurückzugreifen, und der Strudel der Selbstjustiz: Die Horror-, Action- und Thriller-Elemente vereinende „Purge“-Reihe prügelte sich durch einen eng verzahnten Themenkomplex. Mal mit aufregendem, mal ernüchterndem Ergebnis. Doch so ganz hat die Saga über ein Amerika, in dem Mordlustige legal Jagd auf Schutzlose machen, ihr Potential nie ausgeschöpft. Allerdings ist parallel zur „Purge“-Reihe ein Film entstanden, der die Essenz des Horror-Franchises nimmt und so energisch wie brillant zu Ende denkt:

    Ein Jahr vor seinem Serienhit „Euphoria“ brachte Regisseur und Autor Sam Levinson mit „Assassination Nation“ einen Film heraus, der als Kondensat eines modernen, jugendlichen Lebensgefühls beginnt. Daraufhin wird er zu einem Hybrid aus Home-Invasion-Thriller, Selbstjustiz-Rache-Action und stinkwütender Abrechnung mit der Gesellschaft. Tele 5 zeigt „Assassination Nation“ in der Nacht von Freitag auf Samstag ab 0.10 Uhr.

    Trigger, Leaks und Empathielosigkeit

    Wenn Lily (Odessa Young) nicht gerade ihrem Rektor (Colman Domingo) erklärt, wie sie die Welt sieht, textet sie, surft durch diverse soziale Netzwerke oder hängt mit ihren Freundinnen ab. Oder alles zusammen. Als ein anonymer Hacker digitale Daten der Bewohner*innen Salems erbeutet und veröffentlicht, führt dies in Lilys Heimatstadt unverzüglich zu hitzigen Debatten und körperlichen Übergriffen. Alsbald richtet sich der Zorn auf Lily sowie ihre Freundinnen Sarah (Suki Waterhouse), Em (Abra) und Bex (Hari Nef). Der Notzustand bricht aus und die Schülerinnen müssen um ihr Leben bangen...

    Wenn ein gegenwärtiger Film über Jugendliche und ihre Ansichten mit einem regelrechten Gewitter an Triggerwarnungen startet, meint man zu wissen, wie der Hase läuft: Hier macht sich ein Filmemacher jenseits der 30 darüber lustig, dass viele Jüngere aus Umsicht vor Inhalten warnen, die schwer zu schlucken sind. Ein sich über Snowflakes aufregendes Stand-up-Special in Filmform halt... Tja, denkste! Denn in „Assassination Nation“ dienen die Trigger als erzählerischer Vorgeschmack darauf, wo die Story hinführt. Als mahnendes Kondensat des Films, den wir da gleich zu sehen bekommen.

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    Ja, die Warnungen vor Transphobie, fragilen Männeregos, Vergewaltigungsversuchen und vielem mehr können Ahnungslosen als Hinweis dienen, sich in Obacht zu üben. Die süffisante Art, mit der sie ankündigt werden, und ihre berauschend-aggressive Inszenierung, haben jedoch zugleich auch eine sarkastisch-selbstkritische Note. Als wolle „Assassination Nation“ sagen: „Ey, das ist ein Selbstjustiz-Thriller über die kaputten USA, beschwere dich nicht bei mir, wenn er unschön ist!“ Vor allem ist das Triggergewitter eine Zusammenfassung dessen, was dazu führt, dass unsere Heldinnen im weiteren Verlauf um ihr Leben bangen. Es ist keine simple Triggerwarnung – es ist eine Zutatenliste der USA!

    Bevor „Assassination Nation“ erneut die Intensität seines Triggergewitters erreicht, springt der Thriller erzählerisch zurück – und lässt die erwähnten Zutaten gären: Levinson schildert den Alltag seiner Protagonistinnen aus ihrer Perspektive. Sie texten, sexten, lästern, hängen einfach ab, was Levinson mit großer Lässigkeit und durchgefilterter Bildsprache einfängt, mit Social-Media-Clips würzt sowie mit basslastiger Elektromusik unterlegt.

    Und die Freundinnen diskutieren über aktuelle Ereignisse, teils aufgeregt, teils gehässig, teils mit Mitgefühl. Hat ein konservativer Politiker, der ein geheimes Doppelleben hat, das seinesgleichen nicht duldet, Mitleid verdient, wenn seine unter den Teppich gekehrten Vorlieben ans Licht kommen? Oder hat er aufgrund seiner Politik ohnehin jegliches Anrecht auf Empathie verwirkt?

    Die wabernd-wuchtige Wut der Generation „Was soll das?!“

    Die Diskussionen mit Älteren geraten da schon schwieriger. Als durch die Salem-Leaks herauskommt, dass der Direktor seine junge Tochter beim Baden fotografiert hat, sind Lilys Eltern überzeugt, dass er ein Perversling ist. Dass sie ihre eigenen Kinder nackt fotografiert und diese als unschuldig wahrgenommenen Schnappschüsse eingerahmt im Haus verteilt haben, sei selbstredend etwas „völlig anderes“, ganz gleich, wie sehr Lily protestiert.

    Mit jedem neuen Leak und den herzlosen Reaktionen darauf, wird deutlicher, in welche doppelzüngige Welt Lily und Co. geboren wurden: Die Erwachsenen in Salem messen ihre Gegenüber an Maßstäben, die sie selber nicht einhalten. Bei Jugendlichen gehen sie besonders hart ins Gericht, was dazu führt, dass viele von ihnen die schlecht kaschierte Verachtung der Älteren übernehmen. Als auch Lily Opfer eines Leaks wird, braucht es nicht viel, bis aus Cybermobbing und wüsten Beschimpfungen ein „The Purge“-ähnlicher Wutrausch wird. Nach diesem Wendepunkt ändert sich „Assassination Nation“ ...

    Plötzlich Action-Horror statt Gesellschafts-Satire

    ... und die gechillte Bildsprache und gelegentlichen Partyvibes weichen kontrastreichen, kräftig-dunklen Farben und unwohl wummernder Musik. Aus dem eingangs geschilderten Alltagsschrecken der Doppelmoral wird Action-Horror, der noch nicht Alltag ist – aber sogar stärker den Finger in die Wunde legt als das Vorhergegangene: Social-Media-Hetze wird in Salem real. Eine nervenaufreibende, stilsicher gefilmte Home-Invasion-Passage reiht sich zwischen Unruhen und pöbelnde Mobs, die sich einfach nur mächtig fühlen wollen.

    Was in „Assassination Nation“ mit einem Triggergewitter beginnt, endet mit einem anspornenden Gänsehaut-Crescendo: Levinson rückt zurück an seine Protagonistinnen, um den Stilwandel hin zu den Mediengewohnheiten der späten Millennials und der Gen Z zu vollenden, und sie direkt anzusprechen. Der Trigger-Thriller wird zum anstachelnden Vlog mit gerissenem Geduldsfaden, wutentbrannt und sofortigen Wandel einfordernd. Levinson drückt seinen Figuren sprichwörtlich das Streichholz in die Hand, um das kaputte Erbe ihrer Vorgängergenerationen abzufackeln. Ob es ihnen gelingt, muss die Zukunft zeigen...

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