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    Das steckt wirklich hinter den Kinderporno-Vorwürfen gegen Netflix

    Netflix zeige Kinderpornografie. Das kursiert zumindest gerade im Netz. Doch was steckt dahinter? Wenn man sich die fragliche Szene anschaut, nichts. Wenn man nachforscht, woher die Aufregung in die Medien getragen wird, dann eine ganze Menge.

    Netflix

    Zwei etwa zehnjährige Schwestern schauen – vermutlich in den 70er oder 80er Jahren - einen schwarz-weißen Western im Fernsehen. Als sie den Cowboy auf dem Bildschirm nachahmen, indem sie auf Kissen reiten, erlebt eine von ihnen versehentlich ihren ersten Orgasmus – die Kamera zeigt in Zeitlupe ihr glücksverzerrtes Gesicht, anschließend fällt sie erschöpft zur Seite um.

    Dieser Eröffnungsszene aus dem argentinischen Thriller „Desire“, der schon vergangenes Jahr in seiner Heimat in die Kinos lief und vor kurzem in den USA auch auf Netflix veröffentlicht wurde, sorgt aktuell für einiges Aufsehen. Einige wenige Twitter-User haben dem Regisseur Diego Kaplan und dem Streaming-Anbieter Netflix wegen der Szene die Erstellung und Verbreitung von Kinderpornografie vorgeworfen, was zunächst nur von einigen einschlägigen Medien aufgegriffen wurde, aber dann schon bald anfing, immer höhere mediale Wellen zu schlagen.

    Was ist an den Vorwürfen dran?

    Aber das Wichtigste zuerst: Verbreitet Netflix in den USA jetzt tatsächlich kinderpornografisches Material? Die Antwort: Natürlich nicht! Selbst wer in den prüden USA aufgewachsen ist, muss schon einiges an Fantasie (oder bösem Willen) mitbringen, um in der Szene etwas Pornografisches zu erkennen. Vielmehr wirkt der Filmauftakt wie eine typische Szene aus einem der schrill-bunten Melodramen von Pedro Almodovar, schließlich kippt die Situation anschließend auch sofort ins Absurde und Groteske:

    Die Mutter kommt herein und legt erst einmal eine riesige Schlange, die sie gerade zufällig mit sich herumträgt, auf das Sofa (das ist mal biblische Holzhammer-Metaphorik). Anschließend schleppt sie ihre Tochter ins Krankenhaus, weil sie den Orgasmus als epileptischen Anfall auslegt – aus dem Off erfahren wir zudem von der inzwischen erwachsenen Tochter, dass dies der Tag war, an dem ihre Sucht nach Beruhigungsmitteln begonnen hat, weil sie wegen ihrer vermeintlichen Epilepsie in den folgenden Jahren stets fleißig mit Barbituraten versorgt wurde.

    Wahrscheinlich ist es aber auch gar nicht die Art, wie die Szene gefilmt ist, sondern einfach nur die Idee, dass nicht nur Jungs, sondern auch Mädchen sexuelle Gefühle hegen, die einige Zuschauer (oder zumindest Menschen, die von der Szene gehört haben) verstört. Schließlich gibt es in der Filmgeschichte etliche Filme (vor allem Komödien), in denen Jungs versehentlich ihren ersten Orgasmus erleben und über die sich niemand weiter (künstlich) aufgeregt hat. Aber das ist noch mal eine ganz andere Geschichte.

    Warum also die ganze Aufregung?

    Losgegangen ist das alles übrigens gar nicht auf Twitter, sondern mit einem sehr kurzen Artikel auf der Hetz-Seite PJ Media am 27. Juni – deshalb stammen die ersten Tweets, die in späteren Artikeln anderer Medien immer wieder verlinkt wurden, auch fast alle aus den 24 Stunden nach der Veröffentlichung dieses Artikels. Es ist also davon auszugehen, dass es nie „besorgte Nutzer“ gab, sondern der Shitstorm allein aus diesem einzelnen Artikel heraus erwachsen ist, dessen Schlagrichtung die Twitter-Nutzer dann einfach übernommen haben (sehr sicher, ohne sich den Film oder zumindest die Szene selbst vorher anzusehen).

    Der Artikel ist mit einem Screenshot der fraglichen Szene bebildert, der eine absichtlich schlechte Auflösung aufweist und in dem die Gesichter der Mädchen auf bewusst amateurhafte Art mit einem rosafarbenen (!) Pixel-Pinsel unkenntlich gemacht wurden. So wird der Eindruck eines investigativen Vorgehens erweckt, das offensichtlich etwas ganz Schäbiges und Verborgenes ans Tageslicht befördert. Dabei kann natürlich jeder Netflix-Abonnent den Film ganz frei und in hoher Auflösung streamen. Die Autorin Megan Fox, deren neuester Nicht-Netflix-Artikel die Überschrift „Ohio Lawmaker Introduces Bill to Protect Kids from Transgender Mafia at School“ trägt, schreibt zudem, dass sie das FBI informiert hätte, von diesem aber an die Jugendbehörde National Center for Missing and Exploited Children weiterverwiesen worden wäre.

    Nach den ersten Tweets folgten dann Artikel bei dem konservativen Nachrichtenportal FoxNews.com und der rechtsnationalen Hetzseite Breitbart.com, wobei der Artikel auf PJ Media jeweils nicht mehr erwähnt wurde. So entstand plötzlich der Eindruck, dass der Twitter-Aufruhr nicht von einer einzelnen Autorin auf einem Kriegspfad gegen die liberalen Medien (zu denen Netflix spätestens seit dem Deal mit den Obamas auch zählt) ausgeht, sondern von Netflix-Usern selbst, die offenbar zufällig auf die fragliche Szene gestoßen sind und sich aus einer tatsächlichen eigenen Reaktion auf das Gesehene heraus nun auf Twitter aufregen.

    Wenn ihr mal sehen wollt, was das für Leute sind, die sich da so aufregen, könnt ihr ihre Twitter-Profile natürlich gerne anklicken (Vorsicht: rechter Sondermüll). Der Rest ist der übliche Gang der Dinge: Immer größere Portale greifen die Story auf, die Überschrift klingt ja auch verdammt verheißungsvoll, und dabei geht immer mehr unter, von wem und warum die ganze Aktion eigentlich gestartet wurde…

    Darum berichten wir jetzt doch drüber

    Als Fox News vergangene Woche erstmals über den angeblichen Shitstorm berichtet hat, sind natürlich auch wir in der Redaktion auf die Sache aufmerksam geworden – aber nach einer umfangreichen Recherche haben wir uns trotzdem gegen einen Artikel entschieden (und wer uns kennt, der weiß, dass wir gerne über „Shitstorms“ berichten). Denn selbst, wenn man die Hintergründe mit aufdeckt, hilft man mit der Berichterstattung eben auch dabei, aus einer Nicht-Geschichte eine Geschichte zu machen. Aber inzwischen sind zwei Dinge passiert, die uns dazu veranlasst haben, doch noch einen eigenen Artikel zu veröffentlichen.

    Zum einen sind die Vorwürfe mittlerweile soweit hochgekocht worden, dass sich inzwischen auch Regisseur Diego Kaplan selbst dazu genötigt sah, ein Statement zu der ganzen Diskussion zu veröffentlichen. Hier das Statement im übersetzten Wortlaut:

    ‚Desire’ ist ein Film. Wenn wir im Film einen Hai sehen, der eine Frau frisst, dann würde auch niemand denken, dass die Frau wirklich tot und der Hai real ist. Wir arbeiten in einer Welt der Fiktion; und, für mich, steht das Vatersein vor dem Regisseursein. Natürlich haben wir bei Drehen der Szene einen Trick angewendet, nämlich den, dass die Mädchen einfach eine Szene aus einem Cowboy-Film von John Ford nachgespielt haben.

    Es gab keine Interaktion von Erwachsenen mit den Mädchen, abgesehen von ihrem Schauspielcoach. Alles geschah unter der strengen Aufsicht der Mütter der Mädchen. Weil ich wusste, dass diese Szene womöglich kontrovers diskutiert wird, gibt es ‚Making Of‘-Aufnahmen des gesamten Drehs dieser Szene. Alles passiert nur im Kopf des Zuschauers – und wie jemand glaubt, dass diese Szene gedreht wurde, hängt allein vom Grad der Verdorbenheit des jeweiligen Zuschauers ab.

    Erste Berichte auch in Deutschland

    Zum anderen gibt es inzwischen auch erste Berichte zu der Story in Deutschland – und leider sind die, wie zu befürchten war, meist eher kurze Randnotizen für die Gemischtes-Sektion, in denen das Ganze so verzerrt wiedergegeben wird, wie es sie Initiatoren der Kampagne gerne hätten: So schreibt etwa musikexpress.de ohne jede weitere Einordnung einfach von „US-Nutzern“, die den Content für kriminell halten. Ebenfalls ohne jede Einordnung folgt der Hinweis auf die Meldung bei der Jugendschutz-Behörde – dabei kann das natürlich erst mal einfach jeder machen und auf die Instrumentalisierung des Vorwurfs wird gar nicht hingewiesen, lediglich einmal wird in einem anderen Zusammenhang von einer „konservativen Nachrichtenseite“ gesprochen.

    Noch viel problematischer ist allerdings der Abschluss des Textes: Der musikexpress-Bericht endet nämlich mit dem Hinweis, dass das FBI die Sache jetzt laut Medienberichten prüfen würde – die Phrase „laut Medienberichten“ ist dabei mit einem Link unterlegt, der zu einem Artikel des angesehenen Branchenblatts Variety führt, in dem das Wort FBI nicht ein einziges Mal verwendet wird. Die Seite, die tatsächlich von einer FBI-Ermittlung berichtet hat, ist hingegen eine Verschwörungstheorie-Schleuder, in der es nur ein Artikel unter vielen ist, in denen gegen Ausländer und Liberale gehetzt wird. (Zumal man beim FBI natürlich eh alles anzeigen kann – und dann muss die Behörde eben auch mal ein paar Minuten lang ermitteln, bevor die Anzeige als offensichtlicher Unsinn zu den Akten gelegt wird.)

    Fazit:

    Es gibt eine ganze Menge Dinge, die sich an Netflix kritisieren lassen. Dass der Streaming-Anbieter Kinderpornografie verbreitet, gehört allerdings nicht dazu. Stattdessen haben wir es hier wieder mit einem Fall rechter Propaganda (Stichwort: #pizzagate) zu tun, bei der Fakten leider keine Rolle mehr spielen. Es wird einfach nur nach neuen Möglichkeiten gesucht, dem vermeintlich liberalen Streaming-Anbieter (gerade nach dem Vertragsabschluss mit den verhassten Obamas) noch eine reinzuwürgen. Und wenn dann einer einen auch noch soweit hergeholten Angriffspunkt gefunden hat, dann stürzen sich die Horden darauf, ohne selbst noch einmal auch nur eine Sekunde innezuhalten und selbst nachzudenken beziehungsweise sich eine eigene Meinung zu bilden.

    Das bezieht wenig überraschend auch Medien wie FoxNews oder Breitbart mit ein, wobei die zumindest noch geschickt genug sind, über den Umweg der Twitter-User zu berichten – obwohl man auch nur kurz in die Kommentare unter den Artikeln schauen muss (wir raten davon ab, es droht der Verlust des Glaubens in die Menschheit), um zu erkennen, dass sie ihr Ziel, den Hass weiter zu schüren, dennoch erreicht haben. Wirklich problematisch wird es aber dann, wenn auch nicht offensichtlich rechte Medien den vermeintlichen Shitstorm unreflektiert übernehmen und so tun, als seien es tatsächlich ganz normale „besorgte“ Netflix-Nutzer, die sich da jetzt ernsthafte Sorgen um ihren Streaming-Anbieter machen.

    „Desire“ ist keine Kinderpornografie, sondern nur ein weiteres Instrument im anhaltenden Kulturkampf – und so sollte auch die mediale Berichterstattung sich nicht auf den Film stürzen, sondern vornehmlich die Mechanismen offenlegen, die dazu führen, dass sowas plötzlich ein weltweit behandeltes Thema wird. Es kann doch nicht sein, dass man nur mit ein paar Tweets die globale mediale Debatte bestimmen kann, ohne dass dabei jedes Mal wieder ganz explizit darauf hingewiesen wird, dass wir hier tatsächlich gerade nur über ein paar Tweets (und dazu auch noch aus fragwürdiger Quelle) diskutieren.

    Netflix selbst ist bisher übrigens cool geblieben. „Desire“ ist in den USA auch weiterhin über den Streaming-Dienst abrufbar.

     

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