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    Mr. Nobody
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Mr. Nobody
    Von Frank Brunner

    Jaco van Dormael widmet sich in „Mr. Nobody", seinem ersten Film nach 13 Jahren, der Frage, wie bedeutende Entscheidungen den späteren Verlauf des Lebens verändern können. Die Hauptfigur blickt als Greis auf ihr Leben zurück und analysiert die verschiedenen Abzweigungen, die sein Leben hätte nehmen können. Von Dormael spricht dabei grundlegende philosophische und auch physikalische Konzepte (beispielsweise die Theorie des Urknalls) an. Diese anspruchsvolle Anlage des Films erfordert ein hohes Maß an Konzentration von Seiten des Zuschauers, fasziniert jedoch aufgrund der ausgeklügelten Verquickungen der Handlungsstränge, die zudem in einer raffinierten Bildsprache Ausdruck finden.

    Ausgangspunkt des Films ist der 118-jährige Nemo Nobody (Jared Leto), ein Objekt wissenschaftlicher und journalistischer Begierde, schließlich ist er der letzte Mensch, der dem Tod ins Auge blickt. Dank medizinischer Entwicklungen sind die Menschen inzwischen nämlich unsterblich. Der alte Mann blickt zurück auf sein vergangenes Leben, kann sich aber nur schwer an Einzelheiten erinnern: Nach der Trennung seiner Eltern steht der junge Nemo (erst Thomas Byrne, später Toby Regbo) vor der Wahl, bei seinem Vater in England zu bleiben oder mit seiner Mutter nach Nordamerika auszuwandern. Von dieser Entscheidung ausgehend werden unterschiedliche Lebensabläufe skizziert: In einem verliebt er sich in die Tochter des neuen Geliebten seiner Mutter, verliert sie jedoch aus den Augen und trifft sie erst als erwachsene Frau (Diane Kruger) wieder. Der greise Nemo erinnert sich auch an eine Ehe mit der langweiligen Jeanne (Linh-Dan Pham), die unspektakulär und in geordneten Bahnen verläuft, sowie an ein kompliziertes Leben mit der schwer depressiven Elise (Sarah Polley), die er trotzdem über alles liebt und für die er nach ihrem Tod sogar auf den Mars reist, um dort ihre Asche zu verstreuen...

    Die Geschichte wird nicht linear erzählt, sondern erscheint auf den ersten Blick ohne Konzept zusammengesetzt. Immer wieder wird abrupt die Zeit beziehungsweise die Perspektive gewechselt und der Zuschauer im Unklaren darüber gelassen, welche Geschichte sich tatsächlich so zugetragen hat und welche der Fantasie des Erzählers entsprungen ist. Dies erfordert eine beträchtliche Aufmerksamkeit, um die einzelnen Kapitel des Lebens von Nemo Nobody korrekt einzuordnen. Es zeichnet Regisseur Jaco van Dormael aus, dass es ihm gelingt, all diese Episoden mit einer großen Liebe zum Detail zu erzählen. Die einzelnen Geschichten sind filmisch unterschiedlich umgesetzt, fügen sich aber zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Dazu tragen auch unzählige Bilder und Metaphern bei, welche die philosophischen Inhalte des Films stimmig illustrieren. So sieht der Zuschauer bereits in der Einleitung eine Taube, die bei einem Verhaltensexperiment nach und nach lernt, wie sie am besten an ihr Futter gelangt. Die Taube dient dabei als Gleichnis für einen Menschen, der aus vergangenen Erfahrungen lernt und so zu der Erkenntnis gelangt, dass er durch sein eigenes Handeln die Verantwortung für den weiteren Verlauf der Dinge trägt.

    Wie Van Dormael in Interviews erwähnt, hatte er bei diesem Film die Absicht, den Aspekt des „Wenn" bei der häufig gestellten Frage „Was wäre wenn?" genauer auszuleuchten. Er versucht, dies möglichst zu tun und ordnet deshalb keinen der Lebensläufe dem anderen über beziehungsweise unter. Dies birgt jedoch die Gefahr, dass der Zuschauer ebenfalls eine reine Beobachterposition einnimmt und sich folglich emotional distanziert.

    Jared Leto („Requiem for a Dream", „Panic Room"), der in den vergangenen Jahren mehr als Sänger der Rockband 30 Seconds To Mars denn als Schauspieler für Schlagzeilen gesorgt hat, beweist hier einmal mehr, auf welch hohem darstellerischem Niveau er agieren kann. Vor allem in der Rolle des Greises, der kurz vor seinem Ableben steht, punktet er mit einer enormen Präsenz. Er und der talentierte Jungdarsteller Toby Regbo sorgen dafür, dass der Zuschauer nicht dasselbe Schicksal erleidet wie der junge Journalist (Daniel Mays), der am Sterbebett von Nemo auf eine gute Story hofft, jedoch mehr und mehr ob der Komplexität der verschiedenen Leben des Mr. Nobody verzweifelt.

    Van Dormael meldet sich nach langer Abstinenz mit einem ambitionierten Werk zurück. „Mr. Nobody" ist ein Film, der aufdröselt, wie Entscheidungen das spätere Leben beeinflussen können. Der Verzicht auf eine wertende Stellungnahme und die verwobene Erzählstruktur werden sicher nicht alle Kinogänger ansprechen. Doch dank der starken schauspielerischen Leistungen und einer cleveren Auflösung verdient der Film dennoch das Prädikat „empfehlenswert".

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