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    Die Frau, die singt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Die Frau, die singt
    Von Michael Smosarski

    „Die Frau, die singt" war, ebenso wie „In einer besseren Welt", für einen Oscar als bester nicht-englischsprachiger Film nominiert. Und das völlig zu Recht, denn das wuchtige Drama des jungen kanadischen Regisseurs Denis Villeneuve steht Susanne Biers aktuellem Meisterwerk in nichts nach. Nicht nur qualitativ, sondern auch thematisch stehen sich die beiden Filme nahe, geht es doch in beiden Fällen um die Entstehung, das Erdulden und die Integration von Gewalt. Während „In einer besseren Welt" jedoch Dänemark und somit die westliche Welt als festen perspektivischen Bezugspunkt anbietet, versetzt „Die Frau, die singt" den Zuschauer in den Libanon und die Zeit des Bürgerkriegs, dessen Grauen Villeneuve mit unerbittlicher Konsequenz am Beispiel einer ungeheuerlichen Biographie schildert. „Die Frau, die singt" schockiert, ohne unnötig explizit zu sein, und entfaltet über 133 Minuten eine Sogwirkung, der man sich kaum entziehen kann.

    Nach dem Tod ihrer Mutter Nawal (Lubna Azabal) eröffnet der Notar Jean Lebel (Rémy Girard) den Geschwistern Jeanne und Simon Marwan (Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim Gaudette) die eigenartigen Bestimmungen des Testaments: Die beiden sollen in den Nahen Osten reisen, um dort zwei Briefe zu übergeben – einen für ihren Vater, von dem sie glaubten, er sei tot, und einen für ihren Bruder, von dessen Existenz sie gar nichts wussten; erst dann dürfe Nawal in Ehren begraben werden. Während sich Simon sträubt, seiner immer schon etwas seltsamen Mutter, die in den letzten fünf Jahren ihres Lebens kein Wort mehr gesprochen hat, den letzten Wunsch zu erfüllen, lässt sich Jeanne auf die testamentarischen Forderungen ein. So beginnt für sie eine düstere Reise zu ihren eigenen Wurzeln und den schrecklichen Geheimnissen ihrer Familie...

    „Die Frau, die singt" erzählt die Familiengeschichte der Marwans aus zwei Perspektiven: Der westlich-kanadischen von Jeanne und Simon, die Stück für Stück die Teile des schrecklichen biographischen Puzzles zusammenfügen, und der ihrer Mutter, die im Zuge der Aufdeckungen der Geschwister in filmischen Rückblicken präsentiert wird. Es ist ein morbides Rätsel, das die komplette Spieldauer des Films über beschäftigt: Wie passen die Teile zusammen? Was genau geschah vor der Ausreise Nawals nach Kanada? Die Erzählung, die sich auf diese Weise entfaltet, ist von erschütternder Konsequenz. Das ruhige Erzähltempo und die klare, unaufgeregte Bildsprache machen die Enthüllungen umso schmerzlicher: Villeneuve braucht keine filmischen Taschenspielertricks, um ein Höchstmaß an Wirkung zu entfalten.

    Auch explizit werden muss der Regisseur nie, die Gräueltaten sind auch als Andeutungen schrecklich genug. Beispielhaft dafür ist eine Szene, in der sich die inhaftierte Nawal ihrem Foltermeister gegenüber sieht – für den Zuschauer Minuten nervenzerfetzender Anspannung. Seine finale Wirkung erzielt das Drama mittels zweier Plot-Twists, die an dieser Stelle freilich nicht vorweggenommen werden sollen. Es sei jedoch gesagt, dass der Film spätestens durch diese Handlungswendungen endgültig in die Nähe großer, klassischer Tragödien rückt: „Die Frau, die singt" erzählt eine Geschichte, die unwahrscheinlich und dennoch wahrhaftig wirkt.

    Diese Wirkmächtigkeit bezieht Denis Villeneuves Drama maßgeblich aus seiner literarischen Vorlage, einem Theaterstück des libanesischen Autors Wajdi Mouawad. Wie eine Bühnenaufführung mutet „Die Frau, die singt" jedoch nicht an, zu wenig stilisiert, zu lebensecht ist das Spiel des durchweg überzeugenden Ensembles. Insbesondere Lubna Azabal ist in dieser Hinsicht hervorzuheben, gelingt es ihr doch, Nawal Marwan, trotz der physischen und psychischen Extremzustände, in denen sich ihre Figur über weite Strecken des Films befindet, nie überzeichnet wirken zu lassen.

    „Verbrennungen", die Übersetzung des Originaltitels von „Die Frau, die singt", verweist auf den Kern des Dramas: Nicht unmittelbares Leid, sondern Wunden, die nur schwer heilen, stehen im Zentrum – die physische Folter erträgt Nawal, die bleibenden seelischen Qualen aber lassen sie verstummen. „Die Frau, die singt" ist keineswegs vollends hoffnungslos, in einigen Momenten sogar tröstlich. Was hier jedoch vor allem im Gedächtnis bleibt, sind zwischenmenschliche Perversionen. „Die Frau, die singt" konfrontiert auf intelligente Weise mit schwer Erträglichem – und ist gerade deshalb absolut sehenswert.

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