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    Attenberg
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Attenberg
    Von Robert Cherkowski

    Im Schatten der Finanzkrise und der wirtschaftlichen Lähmung Griechenlands hat eine junge, stark vernetzte und inhaltlich prägnante Strömung im griechischen Film zu einer eigenen Sprache gefunden. Gestellt werden dringende, universelle Fragen, die sich keineswegs nur auf Krisen- und Tagespolitik beziehen, sondern Begriffe wie „Realität" oder „Norm" schon in privaten Kontexten ins Wanken bringen. Zu diesen Filmen zählt etwa Giorgos Lanthimos' abgründiges Familiendrama „Dogtooth": Die Geschichte eines verrückten Elternpaares, das seinen Kindern eine von Trugbildern durchsetzte Scheinrealität vorgaukelt und sie von der Außenwelt abschottet, ist nicht nur bestechend inszeniert, sondern dokumentiert ebenso Konstruktion und Durchsetzung radikaler Weltbilder – und zwar so gründlich, dass darüber selbst scheinbare Selbstverständlichkeiten und Alltagsbanalitäten einen bedrohlichen Beigeschmack bekommen. Lanthimos beschwört so wirkungsvoll ein Klima der Hörigkeit, der Entfremdung und der Perversion, dass eine anschließende Auseinandersetzung des Zuschauers mit den eigenen Auffassungen von „Normalität" unabdingbar wird. Lanthimos' Landsfrau Athina Rachel Tsangari schlägt mit ihrem Drama „Attenberg" nun in eine ähnliche Kerbe und auch wenn ihr Film auf den ersten Blick nicht ganz so sinister scheint wie „Dogtooth", ist ihr grandioses Werk doch keineswegs leichtere Kost.

    Marina (Ariane Labed) lebt mit ihrem Vater Spyros (Vangelis Mourikis) in einem kargen griechischen Industrie-Küstenort. Am sozialen Leben beteiligt sie sich nicht, die Menschen sind ihr unheimlich. Kontakt hält sie bloß zu Bella (Evangelia Randou), ihrer einzigen „Freundin", mit der sie verschämt-verspielte sexuelle Experimente unternimmt. Ansonsten vertreibt sie sich ihre Zeit mit Tierdokumentationen von Sir David Attenborough, der bei ihr „Attenberg" heißt – oft scheinen ihr die Tiere in diesen Filmen nachvollziehbarer zu handeln, als sie es von ihren Mitmenschen gewohnt ist. Dann plötzlich wird ihre kleine Welt gehörig durcheinandergebracht: Ihr Vater erkrankt an Krebs und möchte seinem Leben lieber selbst ein Ende setzen, als dahin zu siechen. Außerdem lernt Marina beim Tischfußball einen ihr bis dahin unbekannten Verehrer (Giorgos Lanthimos) kennen, der sich aufrichtig für sie zu interessieren scheint. Die Deckung vor Gefühlen, der Welt und der Sexualität fallen zu lassen, das gestaltet sich für Marina jedoch als hochproblematisch...

    Mit „Attenberg" ist Athina Rachel Tsangari ein unterschwellig-bedrohliches Drama gelungen, mehr noch: ein echtes Filmjuwel! Schon die Titelsequenz, bei der zu den Klängen des Suicide-Klassikers „Ghost Riders" die Monotonie, Tristesse und die scheinbare Ruhe des betulichen Vorstädtchens eingefangen wird, lässt erahnen, das sich hinter den scheinbar biederen Fassaden Rätselhaftes und vielleicht sogar Beängstigendes abspielt. In der Welt von „Attenberg" sind Banales und Alltägliches, insbesondere auch die Liebe etwas Unheimliches, das nur dann bewältigt werden kann, wenn man es zum Spiel macht und somit entfremdet. Die das neue griechische Kino prägende Skepsis gegenüber jeglicher Form verordneter Normalität wird dann auch zum zentralen Thema von „Attenberg". Das Schlachtfeld der Sexualität wirkt hier wie ein Zeitvertreib vom anderen Stern. Was in den meisten Filmen ohne tiefere Auseinandersetzung als gang und gäbe hingenommen wird, wird von Marina in mühsamer Arbeit neu erfühlt, erfahren und erfunden.

    Es bedarf einiger Hilfe, bis sich die Protagonistin langsam öffnen kann. Und selbst dann wirkt das sich anbahnende Liebesspiel noch immer wie ein vorsichtiges Tasten im Dunkeln, das von allerhand Angst und Scham begleitet wird, bis Marina endlich einen eigenen Zugang zur Intimität findet. Dabei verkommt Tsangaris Werk glücklicherweise nie zur filmischen „Sei du selbst"-Floskel auf Doktor-Sommer-Niveau, sondern bleibt kantiger, schroffer und fordernder als vieles, was sonst nur vorgibt, kritisch und abgründig zu sein. Das Sterben ihres Vaters mag zuallererst wie ein ungleich schwereres Thema daherkommen, ist jedoch nur eine weitere Facette des Hauptthemas: So wie Marina ihre eigene Form der Sexualität einfordert, besteht auch ihr Vater auf sein Recht, dem Tod auf seine eigene Art gegenüberzutreten. In „Attenberg" gibt es keine Selbstverständlichkeiten. Hier steht alles auf dem Prüfstand.

    Dabei kommen Erinnerungen an die österreichischen Düstermänner Michael Haneke („Das weiße Band") oder Ulrich Seidl („Hundstage") auf, deren analytisch scharfen Blick auf die Welt und ihre unglückseligen Bewohner auch Tsangari teilt. Wenngleich sie eine ähnliche Philosophie vertreten mag und sie einen vergleichbaren Hang zum didaktischen Erzählen hat, geht sie doch um einiges verspielter und mit einem leisen Humor zu Werke, der das Geschehen hin und wieder sachte auflockert. Leichte Kost sollte man hier dennoch nicht erwarten. Die inszenatorische Härte, mit der Tsangari ihr Werk streng komponiert, erinnert beizeiten sogar ein wenig an das so staubtrockene wie faszinierende Frühwerk Rainer Werner Fassbinders, dessen „Katzelmacher" hier immer wieder deutlich gehuldigt wird – vor allem dann, wenn diverse Szenen mit langen Einstellungen vor theaterhaft-kahlen Wänden arrangiert werden.

    Auch die gelegentlichen Einsprengsel des Unwirklichen, etwa kleine Tanzeinlagen, scheinen kleine Reminiszenzen darzustellen. Aber trotz aller Referenzen an große Vorbilder verkommt „Attenberg" nie zur intellektuellen Spielerei für Eingeweihte, denn Tsangari vergisst nie die emotionale Ebene ihrer Erzählung. Außerdem hat sie eine Hauptdarstellerin an Bord, deren Gesicht man selten ergründen und an dem man sich gerade deshalb kaum sattsehen kann. Mit schlafwandlerischer Selbstverständlichkeit pendelt Ariane Labed zwischen entrückter Künstlichkeit und naturalistischem Schmerz, findet die Balance zwischen den Extremen und lässt ihre thesenhaft entworfene Figur menschlich und – auf beunruhigende Art – nachvollziehbar wirken. Die restliche Besetzung dient vor allem als Resonanzkörper für Marinas stille Schreie. Dennoch verleihen Evangelia Rangou als Bella oder Yorgos Lanthimos als Liebhaber in spe ihren Figuren individuelles Profil, wodurch Labeds Spiel ideal unterstützt und in einen Zusammenhang gesetzt wird.

    Fazit: Mit „Attenberg" stellt Athina Rachel Tsangari komplizierte Fragen und verweigert Antworten. Auch wenn sie ihr Publikum dabei so manches Mal vor den Kopf stößt, wird ihr kluges Drama garantiert lange nachhallen. „Attenberg" ist schon jetzt eine der intensivsten Kinoerfahrungen, die man 2012 machen kann.

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