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    Babycall
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Babycall
    Von Tim Slagman

    Besonders gerne und effektiv nistet sich der Horror in der Unschuld ein – und in der Technik. Was eignete sich also besser als Einfallstor für das Böse, Unheimliche, Gewalttätige als ein Babyfon, dieses symbolträchtige Utensil, das für Schutz und Abhängigkeit zugleich steht? Unsere Kinder wollen wir beschützen, also machen wir uns vom Funk abhängig. Weil unsere Kinder von uns abhängig sind, müssen wir das Gerät schützen. Und sobald sich eines dieser Elemente als trügerisch erweist, sind wir leichte Beute. In „Babycall" von Pål Sletaune ergeben Elemente des Paranoia-Thrillers, des psychologischen Dramas, der Milieustudie und des Horrors eine spannende und ergreifende Mischung. Und wie schon die „Millennium"-Trilogie, die exemplarisch steht für den derzeit blendenden Ruf schwedischer Genrestoffe, wird das Ganze von der mittlerweile gehörig angewachsenen Star-Power von Noomi Rapace getragen.

    Die alleinerziehende Mutter Anna (Noomi Rapace) zieht mit ihrem achtjährigen Sohn Anders (Vetle Qvenild Werring) in einen klotzigen Wohnblock, ein Hochhaussilo in einer namenlosen Stadt, die zumindest groß genug ist, um Anonymität zu gewährleisten. Anders‘ Vater wurde gewalttätig, der Umzug ist eine Flucht. Das Jugendamt kommt regelmäßig vorbei, ansonsten schottet Anna sich und ihren Sohn so gut es geht von der Außenwelt ab. Um Anders auch noch beschützen zu können, während die beiden in getrennten Zimmern schlafen, kauft Anna ein Babyfon. Und obwohl Anders friedlich schlummert, ertönen bald Schreie und Drohungen aus dem Gerät...

    Während die schwedische Provinz in David Finchers Remake von „Verblendung" düster und schneeweiß zugleich war, herrscht bei Pål Sletaune ein alles erstickendes Grau vor. So trostlos, so lähmend, so von der Last eines eintönigen Alltags niedergedrückt stellen nordische Filmemacher ihre Heimat im Kino freilich gerne da, etwa bei Aki Kaurismäki, Lukas Moodysson oder in dem Vampirfilm „So finster die Nacht", der wie „Babycall" von Kindern handelt, die anders sind als die anderen – und von Einsamkeit. Die Architektur, daran bleibt auch bei Pål Sletaune kein Zweifel, ist eine Seelenlandschaft, ein Ausdruck der Verlorenheit Annas, die von allen isoliert scheint, auch und vor allem von ihrem seltsam schweigsamen Sohn Anders. Nur zu dem Verkäufer Helge (Kristoffer Joner), der gerade seine schwerkranke Mutter beim Sterben begleiten muss, baut sie so etwas wie eine soziale Beziehung auf. Der Elektronikmarkt, in dem Helge arbeitet, ist mit seiner beinahe obszönen Verspieltheit, seinem grellen Farbenreichtum eine nahezu unwirkliche Umgebung, in der sich die beiden Suchenden langsam zueinander tasten. Ob dies echte Zuneigung ist oder eher Verzweiflung, das ist indes nicht so recht auszumachen.

    Zudem mehren sich allmählich die Zeichen, dass in Annas Umfeld etwas nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Woher kommen die aggressiven Geräusche aus dem Babyfon? Und wer ist der neue Freund, den Anders am ersten Schultag mit nach Hause bringt, ein noch stillerer Bursche als Anders selbst, der in der Wohnung anscheinend ein- und ausgehen kann wie er möchte? Die allmähliche Eskalation des Geschehens ist gerade in ihrer Schlichtheit meisterhaft aufgebaut. Die Szenen etwa, in denen zwei versehrte Kinder einander stoisch ihre Flecken und Narben zeigen wie eine Faktensammlung, wie die Zeugnisse der leidvollen Vergangenheit eines anderen, sind in ihrer Nüchternheit umso beklemmender.

    Das Verhuschte, Unsichere, Gebeugte, Fahrige, das Rapace, deren frankophoner Künstlername übersetzt immerhin „Raubvogel" bedeutet, ihrer Anna mitgibt, mag manchmal etwas übertrieben scheinen – aber es passt trefflich in einen filmischen Kosmos, in dem sich die bedrückende Wirklichkeit stetig in Richtung des Unwirklichen, Mysteriösen verschiebt. Subtil eingesetzte Erschütterungen kennzeichnen Sletaunes Inszenierung, dafür steht exemplarisch der gezielte und sparsame Musikeinsatz – etwa wenn er das Pathos, mit dem er einen idyllischen See hinter dem Hochhaus einführt, alsbald als trügerische Fiktion entlarvt. Nur zum Ende hin, als alle gelegten Fährten zueinander führen müssen, scheint es einmal, als habe Sletaune zuviel gewollt, als habe er sich in der Fülle seiner Themen und in den rätselhaften Erzählsträngen verloren.

    Fazit: Pål Sletaune ist ein atmosphärisch ungewöhnlich dichter, beklemmender Thriller gelungen, der ohne große Aufregung eine ebenso gewalttätige wie todtraurige Geschichte erzählt. Die Auflösung allerdings wirkt im Lichte des Vorangegangen schließlich ein wenig unbefriedigend.

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