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    A Touch of Sin
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    A Touch of Sin
    Von Michael Meyns

    Der internationale Titel von „A Touch of Sin“ erinnert nicht zufällig an den Schwertfilmklassiker „A Touch of Zen“,  King Hus legendäre Mutter des sogenannten Wuxia-Films. Der für seine subtilen, sozial-realistischen Filme wie „Plattform“ oder „Still Life“ bekannte Regisseur Jia Zhang-ke legt nun zwar keinen dieser klassischen Martial-Arts-Filme vor, ist aber sichtlich von den in diesem Genre erzählten Geschichten beeinflusst. „A Touch of Sin“ ist so einerseits ein typischer Jia-Zhang-ke-Film, in dem mit langsamen, schwerelosen Kamerafahrten von der zunehmenden sozialen Ungleichheit Chinas erzählt wird, andererseits aber auch eine moderne Variante des Wuxia: Denn so wie die Helden von einst mit Schwertern gegen Ungerechtigkeit, Korruption und Nepotismus kämpften, sehen auch Jias Figuren ihre einzige Chance in extremer Gewalt. In Cannes wurde Jia für diese parabelhafte Erzählung von gleich vier Geschichten zu Recht mit dem Preis für das Beste Drehbuch ausgezeichnet.

    Der Minenarbeiter Dahai (Wu Jiang) arbeitet in Shanxi, im Norden Chinas. Seine Mine boomt, zumindest der Besitzer lebt in Saus und Braus, fliegt mit dem Privatjet durch die Gegend und wird begeistert bejubelt. Doch von den versprochenen Dividenden für die Minenarbeiter ist keine Rede mehr, was nur Dahai zu stören scheint. Als er sich Bestechungsgeldern verweigert, wird er zusammengeschlagen. Daraufhin greift Dahai selbst zur Waffe... Der Wanderarbeiter Zhou San (Wang Baoqiang) wird überfallen und erschießt die Täter kaltblütig. Zu Hause warten zwar Frau und Kind, doch Zhou San ist so oft in allen Teilen Chinas unterwegs, dass er kaum noch Interesse an seiner Familie hat. Sein Geld macht er mit Bankraub und Überfällen.

    Xiao Yu (Zhao Tao) arbeitet als Empfangsdame in einem Massagestudio, das auch als Bordell dient. Als sie von Kunden belästigt wird, verteidigt sie sich mit einem Messer... In der Sonderwirtschaftszone Dongguan schlägt sich Xao Hui (Luo Lanshan) mit wechselnden Jobs durch. In einem mondänen Nachtclub bedient er reiche Chinesen und Ausländer, die sich am Anblick junger, hübscher Mädchen erfreuen, die in Mao-Uniformen vor ihnen tanzen. Die unglückliche Liebe zu einer der Tänzerinnen treibt ihn zu einer dramatischen Tat.

    Vier Geschichten erzählt Jia Zhang-ke in „A Touch of Sin“, die allesamt auf wahren Begebenheiten basieren, die sich in den vergangenen Jahren in unterschiedlichen Teilen Chinas zugetragen haben. Die Geschichten sind dabei nur lose verknüpft, mehr als zufällige Begegnungen auf der Straße oder im Bus verbinden die Figuren nicht. Trotzdem formen sie zusammen ein ungeschöntes, pessimistisches Bild der chinesischen Gegenwart. Jia Zhang-ke  zeigt die Folgen des ausufernden Kapitalismus genauso wie den Zusammenbruch traditioneller Familienstrukturen als auch Machtmissbrauch und sexuelle Exzesse.

    Diese Themen umtreiben den chinesischen Regisseur schon seit Jahren. Er thematisierte sie immer wieder, so in seinem 2006 bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Goldenen Löwen als bester Film ausgezeichneten Drama „Still Life“ aber auch in späteren Werken wie „24 Cities“ oder dem essayistischen „I Wish I Knew“ Wie immer mischt Jia dabei auf subtile Weise Fiktion und Dokumentation, lässt Laien neben professionellen Schauspielern agieren und erzeugt vor allem mit seinen schwerelosen, langen Kamerabewegungen einen Sog, der die disparaten Geschichten zu einem einheitlichen Ganzen verbindet. Allerdings unterscheidet sich die Reaktion seiner Figuren auf ihre Situation: Nahmen frühere Jia-Helden ihr Schicksal stoisch hin, greifen sie nun zur Waffe.

    So extrem erscheint ihnen die Ungerechtigkeit mit der sie konfrontiert sind, so ausweglos ihre jeweiligen Situationen, dass sie mit Messer oder Pistole geradezu Blutbäder anrichten. Doch im Gegensatz zu den klassischen Wuxias, die der Regisseur selbst als Inspiration anführt, hat die Gewalt bei Jia keine exstatische Funktion, ja nicht einmal eine kathartische. So beiläufig inszeniert Jia die Gewaltexzesse, dass sie wie eine Fortsetzung des normalen Lebens wirken. Aus purer Hoffnungslosigkeit agieren seine Figuren, im Glauben, dass es keinen anderen Ausweg aus ihren Situationen gibt als die Gewalt.

    Es ist erstaunlich, dass „A Touch of Sin“ dennoch kein zynischer Film geworden ist. Zwischen der Schilderung der sozialen Realität, der Auswüchse des Raubtier-Kapitalismus mit all seinen Exzessen und absurden Folgen, zeigt Jia immer wieder kleine Momente der Stille und des Glücks. So schonungslos drastisch der Regisseur die chinesische Realität schildert: Am Ende ist „A Touch of Sin“ vor allem eine Parabel über eine Entwicklung, die das Land und seine Traditionen zu überrollen scheint, die aber doch zumindest noch nicht gewonnen hat.

    Fazit: Eine Art modernen Wuxia inszeniert der chinesische Regisseur Jia Zhang-ke mit seinem vielschichtigen Sozialdrama „A Touch of Sin“, in dem vier Geschichten aus dem modernen China erzählt werden, die auf unterschiedliche Weise die soziale Realität des Landes schildern.

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