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    Der Schacht
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Der Schacht

    Der Netflix-Horrorfilm, über den plötzlich jeder spricht

    Von Christoph Petersen

    Der minimalistische Horror-Thriller „Der Schacht“ hatte bei seinen Vorführungen bei so renommierten Genrefestivals wie Fantastic Fest oder Sitges zwar für einiges Aufsehen gesorgt, aber dass der spanische Film nach seinem Netflix-Release auch hierzulande dermaßen abgehen würde, hatten wir ehrlich gesagt nicht auf der Rechnung – zumindest nicht in diesen Ausmaßen: Schon am ersten Tag nach der Veröffentlichung waren die sozialen Netzwerke plötzlich voll mit „Der Schacht“ – und auch bei den meistabgerufenen Inhalten auf Netflix Deutschland sprang der Film von Galder Gaztelu-Urrutia direkt auf Platz 2 hinter der ebenfalls aus Spanien stammenden Serie „Elite“. Und das ist rückschauend betrachtet ja auch nur logisch: „Der Schacht“ ist auf jeden Fall ein Film, der Diskussionen auslöst – und es ist ein Film, der mit seiner klaustrophobischen Endzeitstimmung und seinem nihilistischen Menschheitsbild perfekt in diese von Klopapier-Hamsterkäufen und häuslicher Quarantäne geprägten Wochen passt!

    Goreng (Ivan Massagué) hat sich freiwillig gemeldet, um sechs Monate im sogenannten Schacht zu verbringen – dabei weiß er gar nicht, was genau dort eigentlich passiert. Aber das findet er mithilfe des bereits seit einem Jahr einsitzenden Trimagasi (Zorion Eguileor) schnell heraus: Es gibt mindestens 132 (!) übereinander angeordnete Ebenen – und auf jeder hausen exakt zwei Menschen. Jeden Tag wird von oben ein Nobel-Buffet mit den feinsten Speisen und Getränken durch den Schacht heruntergelassen – und auf jeder Ebene bleibt der Aufzug kurz stehen, damit sich die dortigen Insassen bedienen können (sich Nahrungsmittel zu bunkern, ist streng verboten, man darf also nur zu sich nehmen, was man in der kurzen Zeit herunterschlingen kann). Goreng und Trimagasi befinden sich auf Ebene 48. Das ist gar nicht schlecht, denn dort kommt das exquisit angerichtete Festmahl zwar bereits in einer völlig verunstalteten Form an, aber zumindest gibt es genug zu essen. Allerdings werden die Ebenen jeden Monat neu zugeordnet – und so erwacht Goreng eines Morgens plötzlich auf Ebene 171, wo nur noch ein vollkommen leergefegter Aufzug vorbeikommt…

    Auf der Etage Null wird das Mahl noch mit absoluter Perfektion vorbereitet ...

    Das Konzept, eine ganze Gesellschaft auf einem möglichst begrenzen Raum nachzustellen, um dann ihre ganze Abgründigkeit und Perversion offenzulegen, ist sicherlich nicht neu – das hat es von William Goldings „Herr der Fliegen“ (über abgestürzte Grundschüler auf einer Südseeinsel) bis Bong Joon-Hos „Snowpiercer“ (über die Bewohner eines nie stoppenden Zuges) in Literatur und Kino immer wieder gegeben. Aber in „Der Schacht“ wird die eigentlich längst ausgelutscht geglaubte Metapher von denen da oben und denen da unten nun noch einmal so konsequent auf die Spitze getrieben, dass man sich im ersten Moment noch denkt, dass das Schacht-Szenario doch nun wirklich arg platt und offensichtlich geraten ist. Aber das denkt man eben auch nur im ersten Moment: Denn auch wenn die Umsetzung der Metapher tatsächlich sehr buchstäblich angelegt ist, seziert Galder Gaztelu-Urrutia in der ersten Stunde die verschiedensten ethischen Gedankenspiele – und zwar mit erstaunlichem Tempo, einer stets glaubhaften psychologischen Präzision und vor allem einer absoluten Gnadenlosigkeit gegenüber der Bestie Mensch.

    Wenn irgendwo mal ein Funken Freundschaft oder Solidarität aufblitzt, dann darf man sich sicher sein, dass dieser kurz darauf radikal ausgelöscht wird. Schließlich ist eigentlich genug Essen für alle da, wenn nur jeder soviel nehmen würde, wie er braucht. Aber gerade die, die unten gehungert haben, nehmen sich anschließend besonders viel, wenn sie sich in einer oberen Etage wiederfinden – von Empathie keine Spur. Wer selbst gelitten hat, versteht es vielmehr als sein gutes Recht, nun auch andere leiden zu lassen. Gewürzt werden solche nihilistischen Erkenntnisse in „Der Schacht“ mit viel schwarzem Humor – und jeder Menge Blut und Ekel. Da werden nicht nur Mitinsassen verspeist (inklusive maximal verstörendem Sounddesign), sondern sich notfalls auch ins Gesicht gekackt. Sogar Erinnerungen an Pier Paolo Pasolinis legendären Skandalfilm-Klassiker „Die 120 Tage von Sodom“ werden so zwischenzeitig wach.

    ... aber auf Etage 48 kommt davon nur noch ein Haufen verunstalteter Reste an.

    Im finalen Drittel entwickelt sich „Der Schacht“ weg von einer gnadenlosen Gesellschaftsabrechnung hin zu einer mythisch-surrealen Gore-Geisterbahnfahrt (in der es mit dem Aufzug nur in eine Richtung geht, nämlich immer weiter nach unten). Dabei zieht sich der Film trotz eines auf der Zielgeraden noch für reichlich Splatter sorgenden Samuraischwerts dann doch ein wenig in die Länge. Zudem muss man wie bei so vielen von diesen klaustrophobischen Rätselstücken („Cube“, „Lost“ & Co.) damit leben, dass zwar zu Beginn viele Fragezeichen gestreut, später aber nur wenige dazugehörige Ausrufezeichen geliefert werden. Dafür kommen aber all diejenigen voll auf ihre Kosten, die von den omnipräsenten Fernseh-Kochsendungen längst genug haben – denn selbst wenn die Köche auf Etage 0 ihr Bestes geben, um ein absolut perfektes Festmahl den Schacht hinunterzuschicken, spätestens ab dem fünften Stockwerk ist „Der Schacht“ appetitvernichtender Anti-Food-Porn!

    Fazit: Im letzten Drittel geht „Der Schacht“ ein wenig die Puste aus – aber bis dahin liefert Galder Gaztelu-Urrutia die perfekte Gore-Ethikstunde für alle, die in Rekordzeit den Glauben an die Gesellschaft, die Menschheit und den ganzen Rest verlieren wollen. Nihilistischer kann ein Film kaum sein.

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