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    Marriage Story
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Marriage Story

    Netflix‘ nächste große Oscar-Hoffnung!

    Von Björn Becher

    1979 spielten sich Dustin Hoffman und Meryl Streep in „Kramer gegen Kramer“ als entzweites Paar im Streit um das Sorgerecht für ihren kleinen Sohn regelrecht die Seele aus dem Leib. Als Lohn für die Tour-de-Force-Performances gab es für die beiden Stars jeweils einen Oscar. Robert Bentons Klassiker ist dabei aber nicht nur das Porträt einer zerbrochenen Ehe, sondern zugleich auch eine Anklage gegen ein juristisches System, in dem bei einer Scheidung alles auf Trennung ausgelegt ist, ohne dabei zu berücksichtigen, dass eben nicht alles im Leben so einfach und so endgültig zu trennen ist. So werden immer wieder Menschen, die sich eigentlich einig sind, solange von einem System überrollt, bis sie sich Spinnefeind geworden sind. 40 Jahre später hat sich daran offenbar nicht viel geändert, zumindest legt das Noah Baumbach in seinem zweiten Netflix-Film nach dem meisterhaften „The Meyerowitz Stories“ nahe: „Marriage Story“ wirkt in vielerlei Hinsicht wie ein zeitgemäßes Update von „Kramer gegen Kramer“ (mit anderen inhaltlichen Schwerpunkten). Und das betrifft nicht nur das Thema, sondern auch die zwei genauso herausragenden Hauptdarsteller sowie die einzige große Schwäche, die es im 1979er-Vorbild auch gibt.

    Charlie (Adam Driver) und Nicole (Scarlett Johansson) waren zehn Jahre lang ein Traumpaar, das auch beruflich sehr erfolgreich war: Als Regisseur und Schauspielerin haben sie sich gemeinsam in der New Yorker Theaterszene einen Namen gemacht. Doch nun wollen sie getrennte Wege gehen. Nicole zieht zurück in ihre Heimat Los Angeles, wo ihre Familie lebt und sie ein Angebot für einen Serien-Piloten annimmt. Auch der gemeinsame, acht Jahre alte Sohn Henry (Azhy Robertson) zieht mit an die Westküste. Die Ehegatten sind dabei fest entschlossen, die Scheidung einvernehmlich und ohne großes juristisches Aufheben zu erledigen. Aber dann kommen doch noch die Anwälte ins Spiel und es entbrennt ein erbitterter Streit, der sich vor allem darum dreht, ob Henry nur temporär oder für immer in Los Angeles bleiben soll.

    Eine Beziehung am Ende.

    „Marriage Story“ beginnt wie ein typischer New Yorker Liebesfilm von Woody Allen. Aus dem Off erzählen Nicole und Charlie, was sie jeweils an dem anderen lieben, unterlegt mit einer Szenencollage der entsprechenden Momente in ihrer Beziehung. Doch diese beiden Mini-Filme, die Netflix auch vorab als Teaser-Trailer für den Film veröffentlicht hat (und die ihr deshalb beide unter diesem Text findet), trügen. Denn in diesem Moment ist die Beziehung in Wahrheit bereits vorbei. Das Aufschreiben dieser Liebesbekundungen ist vielmehr die Hausaufgabe eines Mediators – und als sie diese einander laut vorlesen sollen, weigert sich Nicole sogar. Wie zerrüttet die Beziehung wirklich ist, macht Baumbach danach in nur wenigen Bildern deutlich. Man lebt für kurze Zeit noch zusammen, aber hat sich eigentlich schon nicht mehr viel zu sagen. In der U-Bahn sitzen beziehungsweise stehen sich beide schweigend gegenüber, zurück in der Wohnung richtet er wortlos seinen Schlafplatz auf der Couch ein.

    Zur vermeintlich einfachen Trennung, von der beide ausgehen, kommt es dann aber natürlich nicht. Sonst wäre „Marriage Story“ ja auch kaum satte 136 (!) Minuten lang. Baumbach versteht es gekonnt, ganz präzise zu illustrieren, wie sich die Dinge hochschaukeln. Als Nicole auf Anraten einer Kollegin die Promi-Anwältin Nora (Laura Dern) kontaktiert, ist sie immer noch davon überzeugt, dass nur noch kleine Details geklärt werden müssen. Doch der wahre Albtraum fängt damit erst so richtig an. Mit der sensationellen Laura Dern sowie Ray Liotta und Alan Alda in weiteren starken Nebenrollen präsentiert uns Baumbach drei grundverschiedene Anwaltstypen, die alle im Familienrecht tätig sind. Sie alle haben komplett andere Ansätze und doch vertiefen sie alle nur die Gräben. Gekonnt vermeidet es Baumbach dabei, die Anwälte zu sehr als Bösewichte zu illustrieren –denn auch wenn sie mit harten Bandagen kämpfen und dabei auch mal übers Ziel hinausschießen, machen sie am Ende doch nur den Job, den sie machen müssen. Es ist eben das System, in dem kaum eine vernünftige Lösung zu finden ist und in dem keine Partei mehr alles richtig machen kann.

    Kindersitz aus der Hölle

    Eine vermeintlich unbedeutende Szene, in der wir gerade gesehen haben, dass Charlie vor dem Abholen seines Sohnes noch schnell den Kindersitz seines Leihwagens mit Nicoles Hilfe festzurren muss, werden in der Scheidungsverhandlung plötzlich zu einem Riesending und von den Anwälten mit allen Mitteln ausgeschlachtet. Obwohl es in „Marriage Story“ einige wirklich krasse (und grandios gespielte) Streitereien gibt, ist der Titel keinesfalls ironisch gemeint, denn so hart die Fronten teilweise auch sind, so sehr scheinen immer auch die Gefühle durch, die überhaupt erst zu der Ehe und der Geburt des Sohnes geführt haben. Das liegt natürlich auch an den beiden Hauptdarstellern, in deren Augen immer auch eine tiefe Zuneigung spürbar ist und die sich den Termin der nächsten Oscarverleihung jetzt schon mal freihalten könnten, wenn es sich bei „Marriage Story“ nicht um einen Netflix-Film und damit um einen besonders kontroversen Vertreter im Awards-Rennen handeln würde. Da ist alles möglich – von einem (sicher nicht unverdienten) Doppelsieg bis zum vollständigen Ignorieren.

    Es gibt keine Szene, in der nicht Scarlett Johansson oder Adam Driver präsent ist. In teilweise sehr langen Einstellungen stacheln sich die „Avengers“-Heldin und der „Star Wars“-Bösewicht gegenseitig zu Höchstleistungen an. Der Höhepunkt ist eine Begegnung, bei der die beiden noch einmal wie vernünftige Leute miteinander reden wollen, bevor der Streit immer weiter eskaliert, sie immer lauter und wütender werden, bis sie sich schließlich Boshaftigkeiten an den Kopf werfen, die man sich eigentlich niemals wieder verzeihen kann – aber wie so viele Szenen endet auch diese nicht so wie erwartet und es bricht wieder die absolute Tragik hervor, gerade weil zwischen all dem Hass auch immer noch so viel Liebe verborgen liegt.

    Man hat sich nichts mehr zu sagen.

    Zugleich verleiht Baumbach seinem Drama aber auch eine erstaunliche Leichtigkeit. Da gibt es immer wieder Momente, die auch aus einer klassischen (Screwball-)Komödie stammen könnten (wie Baumbach selbst ja mit dem unglaublich lustigen „Mistress America“ ja auch schon eine gedreht hat): Da sie laut Gesetz ihrem Mann nicht selbst die Scheidungspapiere zustellen darf, spannt Nicole dafür ihre Schwester Cassie (Merritt Wever) ein. Die hat aber so große Angst, etwas falsch zu machen, dass sie das schlichte Übergeben eines Umschlags vorab immer wieder probt. Als dann mit Mutter Sandra (Julie Hagerty), übrigens ein riesiger Fan ihres Schwiegersohns, auch noch eine dritte Partie mit Ratschlägen, Kommentaren und Fragen dazukommt, entwickelt sich endgültig ein absurd-komischer Schlagabtausch. Neben einer augenzwinkernden Tanzperformance der drei Frauen gibt es auch noch eine fast aus dem Nichts kommende Gesangseinlage von Adam Driver, für die es bei der Pressevorführung vor der Weltpremiere auf den Filmfestspielen von Venedig verdienten Szenenapplaus gab.

    Nur ganz kurz zwischendrin verliert das Drama das Gleichgewicht. Nachdem die Scheidungspapiere übergeben sind, erhält Charlies Perspektive etwas zu viel Raum. Der Zuschauer kann hautnah miterleben, wie sehr Charlie die Angelegenheit zusetzt, er unter der wenigen Zeit mit seinem Sohn leidet, sich angegriffen fühlt. Wie schon im überdeutlichen Vorbild „Kramer gegen Kramer“ werden die Sympathien des Publikums direkt unnötig stark in die Richtung des Mannes gelenkt, wo es doch gerade darum geht, dass beiden die Kontrolle über ihre Scheidung vollkommen entgleitet. Erst ein ebenso eindringlicher wie köstlicher Monolog von Laura Dern (übrigens ihr großer Nebenrollen-Oscarmoment), indem sie die unterschiedlichen Erwartungen an Mütter und Väter bis zur Jungfrau Maria zurückverfolgt, rückt das wieder gerade.

    Toll aussehen tut er auch noch

    „Marriage Story“ punktet aber nicht nur mit seinem präzisen Skript, den schneidigen Dialogen und fantastischen Schauspielleistungen, er sieht mit seinen auf 35-mm-Filmmaterial gedrehten Bildern auch noch verdammt gut aus. Zugleich nutzt der überzeugte New Yorker Baumbach seine Inszenierung aber auch noch für einen zentralen Running Gag (und bissigen Seitenhieb in Richtung Los Angeles): Von Anfang an erwähnt jeder gegenüber Charlie, dass er ruhig nach L.A. ziehen sollte, schließlich würde „die Weite“ dort alles andere, was es an New York zu vermissen gibt, wieder wettmachen. Aber dann ist Baumbach mit seiner Kamera vor allem in den L.A.-Einstellungen immer ganz nah dran an seinen Figuren, lässt sie oft fast die gesamte Leinwand (ja, wir sind uns des Glücks bewusst, dass wir ihn tatsächlich im Kino sehen konnten) einnehmen. Zudem spielen die Szenen oft in Wohnungen oder Kanzleien. Von der angesprochenen „Weite“ ist so jedenfalls erst ganz am Ende mal was zu sehen – und es ist davon auszugehen, dass sich auch Baumbach selbst von seinen L.A.-Kollegen schon so oft diesen Spruch anhören musste, dass er jetzt ein für alle Mal mit ihm abrechnen wollte.

    Fazit: Ein herausragend gespieltes, zutiefst berührendes Scheidungsdrama, das trotz seines tragischen Themas und seiner stolzen Laufzeit auch erstaunlich unterhaltsam geraten ist.

    Wir haben „Marriage Story“ bei den Filmfestspielen in Venedig gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.

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