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    In Zeiten des Teufels
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    In Zeiten des Teufels
    Von Christoph Petersen

    Lav Diaz selbst mag den Begriff zwar nicht besonders, aber er hat ihn mit seinen Filmen nun mal mehr geprägt als jeder andere Regisseur, zudem passt er auch einfach ziemlich gut: Slow Cinema. Was sich als Beschreibung eines Hollywoodfilms wie ein Schimpfwort liest, macht die Werke des philippinischen Auteurs zu etwas ganz Besonderem, denn er lässt sich einfach die Zeit, die seine Geschichten zum Wirken brauchen, und wenn der Film am Ende mehr als acht Stunden lang wird wie „A Lullaby To The Sorrowful Mystery“, für den er 2016 auf der Berlinale mit dem Alfred Bauer Preis für die Eröffnung neuer kreativer Perspektiven ausgezeichnet wurde, dann ist das eben so. Wie sein gerade erst in den deutschen Kinos gestarteter Venedig-Gewinner „The Woman Who Left“ ist nun auch Diaz‘ Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „In Zeiten des Teufelsnur knappe vier Stunden lang (was ein gutes Drittel der anwesenden Journalisten trotzdem nicht davon abgehalten hat, noch während der ersten Hälfte teils fluchtartig den Saal zu verlassen). Trotz seiner für Diaz-Verhältnisse allenfalls durchschnittlichen Länge sticht „In Zeiten des Teufels“ zumindest auf dem Papier dennoch aus der Filmografie des 59-Jährigen heraus wie ein bunter Hund – das in expressiven Schwarz-Weiß-Einstellungen gefilmte, mythologisch überhöhte Drama über grausame Kriegsverbrechen Ende der 1970er Jahre ist nämlich Diaz‘ erstes Musical.

    1977 hat der philippinische Diktator Marcos das Dekret Nr. 1016 erlassen, mit dem er die Bewaffnung von Zivilisten zur Unterstützung des Kampfes gegen den Kommunismus und die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung beschloss. So entstand die 73.000 Mann starke Civilian Home Defense Force (CHDF), die in der Folge vor allem für schwerwiegendste Menschenrechtsverstöße, Morde und Vergewaltigungen berüchtigt war. Die Handlung von „In Zeiten des Teufels“ ist zwei Jahre nach dem Erlass in einem südphilippinischen Dorf angesiedelt, dessen Bewohner von der CHDF terrorisiert werden. Die Ärztin Lorena (Shaina Magdayao) will dort eine Armenklinik eröffnen, wird jedoch ebenfalls von der CHDF schikaniert, weil diese auch immer wieder ganz gezielt Aberglauben einsetzt, um die Bewohner kleinzuhalten – und da würde so eine aufgeklärte Ärztin von außerhalb nur stören. Unterdessen stürzt Lorenas daheimgebliebener Poeten-Ehemann Hugo Haniway (Piolo Pascual) aus Sorge um seine Frau in eine tiefe Depression. Als er sich schließlich doch aufrafft, ihr hinterher zu reisen, ist es womöglich schon zu spät…

    Wer schon mal einen der Filme von Lav Diaz gesehen hat, der wird sich zwangsläufig fragen, wie zum Teufel seine entschleunigte Erzählweise und der Rhythmuswillen eines Musicals überhaupt zusammengehen sollen? Aber wie zu erwarten rückt Diaz‘ keinen Millimeter von seiner Vision ab, sondern zwingt vielmehr das Musicalhafte, sich dem von ihm vorgegebenen Tempo (oder eben Nicht-Tempo) anzupassen. Der tagalogische Sprechgesang, bei dem gefühlt jede einzelne Zeile auf „o“ endet, der nur selten melodisch ist und vollständig ohne instrumentale Begleitung auskommt, dient dabei immer auch zur Abgrenzung zwischen den Unterdrückten und ihren Unterdrückern. Während der Gesang der Helden etwas Sehnsuchtsvolles und Verlorenes an sich hat, als würden sie den Mond ansingen und jede Zeile wäre ein Strohhalm Hoffnung, an den sie sich mit letzter Kraft klammern, hat der Gesang der Bösen immer auch etwas Spöttisches und Selbstgerechtes. Vor allem der nur aus einem simplen „La. La. La.“ bestehende Refrain der Soldaten, wohl ganz bewusst das einzige eingängige melodische Motiv des Films, wird einen nach dem Kinobesuch noch lange heimsuchen, denn im Gegensatz zu den Strophen muss den Refrain jeder Anwesende mitsingen, selbst wenn er gerade vom CHDF verhört, gefoltert oder missbraucht wird.

    Wie schon der Titel und das Poster nahelegen, hat auch „In Zeiten des Teufels“ wie die meisten Filme von Diaz eine ausgeprägte mythologische Komponente. Ahas (Joel Saracho), der Anführer der örtlichen CHDF-Einheit, hat ein halbverbranntes Gesicht – und nicht nur wenn er sich in einer Szene durch eine offene Tür wie ein Vampir an den Dorfvorsteher Paham (Bart Guingona) anschleicht, sind in Diaz‘ Inszenierung die Einflüsse des expressionistischen Stummfilmhorrorkinos von Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ bis zu Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ deutlich erkennbar. Richtig bizarr wird es dann in der vielleicht besten Szene des Films, wenn Noel Sto. Domingo als CHDF-Chairman Narciso auftaucht und für seine Anhänger eine Rede hält, die an die Agitations-Parodien von Charlie Chaplin in „Der große Diktator“ erinnert. Nachdem er mit einem grotesk verzerrten, bebrillten zweiten Gesicht auf seinem Hinterkopf (das verstörende Plakatmotiv) und in einer völlig unverständlichen Fantasiesprache seine Hetzansprache geschmettert hat, sind seine Anhänger regelrecht gerührt. Eine gallige Karikatur.

    Wenn der Poet Hugo Haniway nach knapp drei Stunden in dem Dorf ankommt, hat der Zuschauer zuvor schon einige potentielle Mitstreiter kennengelernt – neben dem Dorfvorsteher ist da etwa auch noch Aling Sinta (Pinky Amador), die seit der Ermordung ihres Mannes und ihres Sohnes im März zuvor von der Dorfgemeinschaft gemieden und von allen nur noch Kwago (=Eule) genannt wird, weil die CHDF sie als Hexe diffamiert hat, um so von vorneherein jeder Klage von ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Nun könnte man natürlich annehmen, „In Zeiten des Teufels“ würde sich womöglich zu einer Geschichte in der Tradition von „Die sieben Samurai“ entwickeln, in der ein Fremder und ein Team von Außenseitern den ihre Macht missbrauchenden Unterdrückern mal zeigen, was eine Harke ist. Aber trotz seiner mythologischen Elemente hat Diaz kein Interesse an Märchen, die Schönheit und Hoffnung muss man hier woanders suchen als in einer kathartischen Heldenprosa.

    Aber um fündig zu werden, muss man ja einfach nur die Augen aufmachen, hinschauen und sich einlassen. Die knappen vier Stunden von „In Zeiten des Teufels“ wären schließlich selbst dann noch eine lohnenswerte Erfahrung, wenn man den Ton ausstellt und die Story links liegen lässt. Was Diaz hier erneut an kraftvollen, teils schwelgerischen, oft vielschichtigen, mit Sonnenlicht komponierten Schwarz-Weiß-Bildern kreiert, ist im wahrsten Sinne des Wortes ganz große Kunst, die vom Albtraumhaft-Abgründigen über das Absurd-Groteske bis hin zum Neblig-Mythischen und Lebensbejahend-Schönen reicht. Selbst wenn wir uns irgendwann tatsächlich einmal alle gegenseitig ausrotten, bleiben zumindest diese Bilder zurück. Ein wahrhaft tröstlicher Gedanke.

    Fazit: Lav Diaz‘ Slow-Musical „In Zeiten des Teufels” stärkt den Glauben an die Kraft des Kinos, nimmt einem dafür aber ein Stück weit den Glauben an die Menschheit. Die in (alb-)traumhaft schöne Bilder gefasste, absolut gnadenlose Abrechnung mit einer dunkelschwarzen Ära der philippinischen Geschichte ist zugleich ein letzter verzweifelter Appell an die Bevölkerung, endlich aufzuwachen. Selbst nach 236 Minuten trifft einen der Film mit seiner allerletzten Einstellung noch einmal ganz tief ins Mark.

    Wir haben „In Zeiten des Teufels“ bei der Berlinale 2018 gesehen, wo der Film im Wettbewerb gezeigt wird.

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