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    The Painted Bird
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Painted Bird

    Der wohl grausamste Film des Jahres

    Von Christoph Petersen

    Der Roman „Der bemalte Vogel“, der von einem jüdischen Jungen erzählt, der sich zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs allein durch ein nicht benanntes osteuropäisches Land schlagen muss und dabei unfassbaren Schrecken und Demütigungen ausgesetzt ist, hat auch nach seiner Veröffentlichung 1965 mehrfach Kontroversen ausgelöst. Zunächst musste der polnisch-amerikanische Autor Jerzy Kosiński eingestehen, dass die Geschichte doch nicht auf seinen eigenen Erfahrungen basiert.

    Später kam dann auch noch heraus, dass Kosiński große Teile wohl direkt aus einem früher erschienenen polnischen Buch übernommen hat. Aber egal: „Der bemalte Vogel“ gilt weiterhin als einer der kraftvollsten Romane, die je über die Grausamkeit des Krieges und der Menschen geschrieben wurden – und die Verfilmung „The Painted Bird“ von Václav Marhoul ist nun kaum weniger niederschmetternd. Bei der Pressevorführung im Rahmen der Filmfestspiele von Venedig sind die Zuschauer speziell bei einer Szene nicht nur aus dem Saal gegangen, einige sind regelrecht geflüchtet. Eine verständliche Reaktion.

    Der namenlose Junge sieht eine unfassbare Grausamkeit nach der anderen mit an.

    Nach dem Tod seiner Großmutter wird der Protagonist, ein namenloser, nahezu stummer Junge (Petr Kotlár), von den Bewohnern des nahegelegenen Dorfes aufgegriffen. Sie wollen ihn ertränken, weil er als Jude eh nur Unglück bringt, verkaufen ihn dann aber doch an eine Zigeunerin. In der Folge wird der Junge immer wieder woanders unterkommen (u. a. bei Harvey Keitel und Stellan Skarsgård) – und jedes Mal endet es grausam. Das Kind wird dabei nicht nur mit unfassbaren Gewalttaten konfrontiert, sondern auch mit allen erdenklichen sexuellen Perversionen – er wird geschlagen, ausgenutzt, von Männern und Frauen sexuell missbraucht, selbst die Kirche entsorgt ihn schließlich in der Jauchegrube, nur weil er bei seinem Job als Messdiener einen kleinen Fehler gemacht hat. Erst in dem russischen Sniper Mitka (Barry Pepper) findet er nach einer langen Odyssee so etwas wie einen väterlichen Freund – und von ihm lernt er auch, wie man Menschen am effizientesten tötet …

    Der ungarische Regiemeister Béla Tarr hat 1994 noch siebeneinhalb Stunden gebraucht, um uns in seinem fantastisch fotografierten, mit extrem langen Einstellungen gespickten Schwarz-Weiß-Drama „Satanstango“ vom Schmerz und der Perspektivlosigkeit der menschlichen Existenz zu überzeugen. Bei „The Painted Bird“ muss man – trotz der relativ kurzen Laufzeit von nur fast drei Stunden – sofort an die Werke von Tarr denken. Nicht nur ist „The Painted Bird“ ähnlich apokalyptisch, sondern wartet auch mit ähnlich unvergesslichen Schwarz-Weiß-Bildern auf – und zwar schon ab der allerersten Einstellung, in der der Junge mit ansehen muss, wie eine Gruppe Gleichaltriger seinen Iltis mit Benzin übergießt und anzündet. Der komplette Todeskampf wird eingefangen. Zugleich legt „The Painted Bird“ aber ein ganz anderes Tempo vor. Hier gibt es keine 15-Minuten-Einstellungen, in denen jemand wie in Tarrs „Das Turiner Pferd“ einfach nur eine heiße Kartoffel isst, stattdessen legt Kosiński bei seinem Abhandeln der Schreckensepisoden ein kaum auszuhaltendes Tempo vor – bis selbst die unvorstellbarsten Grausamkeiten für den Zuschauer fast schon zur Routine werden.

    Mit dem Kruzifix gegen den Schrecken. Spoiler: Hilft nicht!

    Der Titel „The Painted Bird“ bezieht sich dabei übrigens auf eine Episode, in welcher der Junge bei einem alten Vogelfänger (Lech Dyblik) untergekommen ist. Einmal malt dieser einfach nur so einen Vogel mit weißer Farbe an – und entlässt ihn dann wieder zu seinem Schwarm am Himmel, wo er von seinen Artgenossen augenblicklich in der Luft zerpflückt wird. Ein nicht nur visuell atemberaubender Anblick, sondern auch eine der stärksten Metaphern für die Grausamkeit des Menschen gegenüber denen, die er nicht als zu seiner Gruppe dazugehörig ansieht. Und tatsächlich: In „The Painted Bird“ erleben wir ein Massaker, in dem ein ganzes Dorf von kosakischen Reitern abgeschlachtet wird, bevor dann die russische Armee noch einmal drüber rollt. Wir sehen, wie Nazi-Schergen vom KZ-Zug springende Juden niedermähen – und sich noch einen Spaß daraus machen, eine Mutter mit ihrem Baby erst noch ein wenig „tanzen“ zu lassen, wie in den alten Westernfilmen, wo der Bösewicht vor die Füße seines Opfers schießt.

    Starker Tobak

    Wenn Udo Kier („Bacurau“) als eifersüchtiger Müller seinem Nebenbuhler mit einem Löffel beide Augen aus dem Kopf puhlt oder der Junge seinen ihn allabendlich vergewaltigenden Pflegevater (Julian Sands) in ein bis obenhin mit Ratten gefülltes Loch stößt, kann man das ja noch irgendwie als B-Movie-Gore abtun. Aber wenn sich die Frauen eines Dorfes auf eine im Wald lebende Nymphomanin (Jitka Čvančarová) stürzen, um sie mit einer Flasche zu vergewaltigen, fällt auch dieser Abwehrmechanismus weg. „The Painted Bird“ ist ganz starker Tobak – und wenn man das Konzept der Kapitel (benannt nach der aktuellen „Aufsichtsperson“ des Jungen) erst einmal verstanden hat, kann man fast schon vorhersagen, welche Grausamkeiten und Perversionen da wohl noch kommen müssten.

    Wahrscheinlich liegt man dann gar nicht mal so weit daneben – und trotzdem wird einen das wahrscheinlich nicht davor bewahren, dass einen die einzelnen Miniaturen dann doch wieder mit der vollen Breitseite erwischen. Das Grauen ist viel zu meisterhaft und atemberaubend inszeniert, als dass man sich ihm einfach so entziehen könnte – es sei denn natürlich, man ergreift die Flucht und stürzt aus dem Saal.

    Fazit: Ein Film, der einem den Glauben an die Menschheit nicht nur austreibt, sondern ihn in den allerschönsten Schwarz-Weiß-Bildern, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, regelrecht zertrümmert, zerhackt, zerfickt und dann auch noch die Überreste verbrennt. Ob man das sehen will oder nicht, muss jeder selbst entscheiden – aber kalt lassen wird „The Painted Bird“ wohl niemanden.

    Wir haben „The Painted Bird“ bei den Filmfestspielen in Venedig gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.

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