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    Petrov's Flu - Petrow hat Fieber
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Petrov's Flu - Petrow hat Fieber

    Russland – Ein Fiebertraum

    Von Janick Nolting

    Die Karriere von Kirill Serebrennikov böte selbst genügend Stoff für einen spannenden Kinofilm. Eine umstrittene Künstlergestalt, wandelnd zwischen Theaterbühnen und Kinoleinwänden, zwischen Anpassung und kritischer Subversion. Jahrelang hatte Serebrennikov mit den russischen Behörden zu kämpfen. Ab 2017 wurden ihm ein Arrest und Reiseverbote auferlegt. Seine künstlerische Arbeit konnte er deshalb zum Teil nur über Videoschalten aus der Ferne und in den heimischen vier Wänden fortsetzen.

    Vor heißen Eisen schreckt der Regisseur dabei in seinen Theaterinszenierungen und Filmen nicht zurück. „Der die Zeichen liest“ erzählte etwa vom religiösen Wahn eines Schülers. „Tchaikovsky’s Wife“ rüttelt am Thron der Komponistenlegende Pjotr Tschaikowsky, porträtiert aus der Sicht seiner unglücklichen Ehefrau, einer Gefangenen in einem toxischen Geschlechterkrieg. Es ist ein stetiges Abarbeiten an gesellschaftlichen Narrativen, Traditionen und Ordnungen. Die Romanverfilmung „Petrov’s Flu“ setzt dort ebenfalls an. Serebrennikovs neunter Spielfilm ist ein irrlichterndes, verstörendes russisches Sittengemälde.

    Silvester steht vor der Tür – und eine ganze Nation leidet am kollektiven Fieberwahn.

    Jekaterinenburg, irgendwann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion: Der Mechaniker und Künstler Petrov (Semyon Serzin) lebt gemeinsam mit seiner Familie in einer trostlosen Wohnblocksiedlung. Der Silvesterabend steht bevor, während eine mysteriöse Grippewelle um sich greift. Auch Petrovs Familie wurde bereits von ihr eingeholt. Das Fieber steigt, die Menschen bewegen sich am Rande der Eskalation…

    Die ganze Gesellschaft ist wortwörtlich krank. Man braucht nur wenige Minuten, um diesen sinnbildlichen Zustand erkannt zu haben. Serebrennikov beschwört gleich in der Auftaktsequenz eine ungeheuer dichte Atmosphäre. In einer langen Einstellung verfrachtet er das Publikum in einen vollen Bus, wo Menschen pöbeln, husten, zanken. Zwischendurch ein Halt, die Kamera steigt aus. Reiche werden herbeigeschleift, an die Wand gestellt, abgeknallt. Dann geht es wieder hinein in den Bus und weiter geht die wilde Fahrt. „Petrov’s Flu“ treibt diese Atemlosigkeit bis zur Übersättigung. Als leicht verdauliches Filmerlebnis kann man Serebrennikovs Leinwandtrip definitiv nicht bezeichnen.

    Albtraumhafte Kamerafahrten

    Formale Stärken spielt der russische Regisseur immer dann aus, wenn er seine beiden künstlerischen Steckenpferde Film und Theater in einer Symbiose begreift und ihre Mittel einander befruchten lässt. Serebrennikow erzählt mit raufenden, expressiven, einander verletzenden Körpern. Mit einem unmittelbaren Spiel in virtuos gefilmten Plansequenzen. „Petrov’s Flu“ gelingen in vielen schnittlosen Einstellungen höchst intensive, performative Momente. Sie arbeiten stetig am Rande des Unzuverlässigen.

    Selbst die simulierte Echtzeit folgt nur noch einer undurchsichtigen (Alb-)Traumlogik. In einer der eindringlichsten Passagen verfolgen wir Petrov bei einem assistierten Selbstmord. Man kann kaum auseinanderhalten, was davon nur einem Hirngespinst entspringt und was in der filmischen Welt tatsächlich geschieht. Serebrennikovs Odyssee glänzt dabei nicht nur mit verblüffender Logistik. Sie zeugt ebenso konsequent von einer Gesellschaft, die offenbar nur noch durch Illusionen und Trugbilder hastet.

    In „Petrov‘s Flu“ wirken selbst die Bilder mitunter grünlich-krank.

    Zeit und Raum sind in Serebrennikovs postsowjetischem Russland auseinandergefallen. Eine abgelaufene Aspirin-Tablette aus den 1970ern ist nur ein exemplarisches Mittel, das die Sinne fortwährend zu trüben scheint. Es ist die Pille Nostalgie, die einen seltsame Dinge sehen lässt. Die turbulenten Landesgeschichten sind nicht vollends abgeschlossen, das Neue hat noch keine stabile Form angenommen. Der Fieberwahn der Figuren greift auch nach der assoziativen Erzählweise des Films.

    Orte schimmern in grünlichen und orangenen Tönen, als seien sie selbst am Siechen und Faulen. Fiktionsebenen kollidieren, Hintergründe werden wie Tapeten von der Leinwand gerissen, Zimmer verwandeln sich von jetzt auf gleich. Serebrennikov inszeniert seine Schauplätze als künstliche Kulissen und Bewusstseinsräume, die keine feststehenden Mauern mehr kennen. Sie sind Bühnen der Orientierungslosigkeit und der Gewalt. Die bereits erwähnte Auftaktsequenz im Bus bietet einen Vorgeschmack. Währenddessen zieht Petrovs Ehefrau (Chulpan Khamatova) los, um Männer blutig mit einem Küchenmesser niederzumetzeln. Oder ist auch das nur Einbildung?

    Kryptisches Mosaik

    Überhaupt, wonach lässt sich denn greifen in diesem Film? Serebrennikov ist ein leidenschaftlicher Formalist. Dass er mit taktiler, faszinierender Bildsprache arbeiten kann, lässt sich schwer verkennen. Aber verlässt man diesen Kraftakt wirklich klüger? Serbrennikov hat den Gripperoman „Petrow hat Fieber“ von Alexei Salnikow in geschlagenen 145 Minuten adaptiert. Müßig für ein Werk, das keiner stringenten Handlung folgt, sondern allein immer neue Skurrilitäten auf die Leinwand wirft. Zumal sein Tempo im letzten Drittel deutlich ins Stocken gerät. Es fällt schwer, da nicht gedanklich auszusteigen. Aber wahrscheinlich liegt Serebrennikow genau an diesem lähmenden Gefühl.

    Eine entlaufene Leiche, ein klapperndes Gebiss, eine Frau mit Superkräften oder Petrovs Kindheitserinnerungen im 4:3-Format wollen auch in der Wahnlogik des Films immer weniger ein erhellendes Gesamtbild ergeben. Dafür ist „Petrov’s Flu“ schlicht zu kryptisch und unkonkret gehalten. Und ja, vielleicht auch ein wenig selbstgefällig in seinem Exzess. Diesen Vorwurf kann man vorsichtig anbringen. Selbst in dem schwerfälligen letzten Akt wirft er mit einer Figurenbiographie in Schwarz-Weiß genüsslich noch ein Puzzleteil mehr auf den ohnehin schon waghalsig aufgetürmten, undurchdringbaren Stapel.

    „Petrov’s Flu“ ist letztendlich genauso perspektivlos wie die Figuren, die ihn bevölkern. Vielleicht kann man nach all den Abgründen wenigstens einen ambivalenten Hoffnungsschimmer im Bild eines Scheintoten sehen, der aus dem Sarg springt und die Flucht ergreift. Oder man gibt sich schlicht einem gewissen Zynismus, einer Lust am schrecklichen Spektakel hin, die sich Serebrennikov bei seiner Sektion einer verlorenen Gesellschaft nicht verkneifen kann. Wieder treffen sich irgendwann Menschen in einem Bus, wohin auch immer er fahren mag. Am Ende schallt ein grausig hexenhaftes Lachen.

    Fazit: Kirill Serebrennikovs Russland-Porträt ist ein halluzinierender Rausch. „Petrov’s Flu“ serviert als ausuferndes, kryptisches Verwirrspiel zwar wenige klare Antworten, dafür zelebriert er seinen erschöpfenden Wahnsinn mit inszenatorischer Meisterklasse.

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