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    Zeit der Kannibalen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Zeit der Kannibalen
    Von Petra Wille

    Was sind die wirklich existentiellen Dinge? Familie, Reichtum, Glück – oder die schlichte Unversehrtheit des Leibes. Je nach Lebensmittelpunkt und persönlichen Vorlieben werden die Schwerpunkte in dieser Frage bekanntlich recht unterschiedlich gesetzt. Haben wir First-World-Problems, wenn uns die ständig unterschiedliche Anordnung von Lichtschaltern in Hotels weltweit ärgert? Passen westliche Rezepte einer globalen Unternehmensberatung zu Ländern wie Nigeria oder Indien? Johannes Naber erzählt in seiner grotesken Komödie „Zeit der Kannibalen“ von diesen und vielen anderen Dingen und überzieht dabei wo es nur geht, ohne in die Klamotte abzugleiten. Nicht zuletzt das konsequente Ende sorgt für 85 Minuten bester Unterhaltung mit einem sehr ernsthaften Einschlag.

    Kai Niederländer (Sebastian Blomberg) und Frank Öllers (Devid Striesow) sind seit Jahren ein weltweit tätiges Unternehmberatertandem. Als statt ihrer der Rivale Hellinger zum Partner befördert, sind beide empört. Diese Schmach vereint sie im Argwohn gegenüber der neuen Kollegin Bianca März (Katharina Schüttler). Diese scheint ehrgeizig und gleichzeitig von naivem Idealismus getrieben. Während die drei in einem Hotel in Lagos sitzen und Termine wahrnehmen, erfahren sie, dass sich Hellinger umgebracht hat und ihre „Company“ verkauft werden soll. Während sie fieberhaft überlegen, wie sie reagieren und handeln sollen, wird das Hotel von militanten Islamisten besetzt.

    Regisseur und Autor Johannes Naber („Der Albaner“) setzt bei seiner Inszenierung auf völlige Reduktion und lässt die die drei Hauptdarsteller den kammerspielartigen Film, der fast komplett ohne Musik auskommt, tragen: Neben wenigen – identischen – Hotelzimmern besteht das Set lediglich noch aus Fluren vor den Türen. Die Außenwelt heißt wahlweise Nigeria oder Indien, es könnte auch Russland oder Australien sein. Sie zeigt sich kurzzeitig in Geschäftspartnern, die zu Meetings kommen, einer Videokonferenz und einem außergewöhnlichen Blick aus dem Fenster. Der zeigt nämlich - wie in einer Theaterkulisse - immer die gleiche Andeutung einer beliebigen Stadt. Würfelförmige, graue Häuser, schmutzige Luft und eine stumpfe Sonne sind zu sehen. Das ist nicht nur dem überschaubaren Produktionsbudget geschuldet, sondern gleichzeitig absolut konsequent: Das Berater-Trio braucht alles da draußen nicht. Obwohl sie skrupellos über Schicksale von Firmen und Menschen in diversen Regionen der Welt entscheiden, machen sie keinen Schritt in die Wirklichkeit dieser Länder. Nur kurz dort die Luft zu atmen, sei wie 30 Tage Dauerrauchen, bemerkt Niederländer. Er ist auch derjenige, der für den Fang einer Mücke (die neben Hepatitis A, B, C und D auch AIDS und Malaria übertragen könne, wie er aufgeregt verkündet - „Wir sind in Afrika!“) eine Heerschar von Hotelangestellten anheuert und mit 40 Dollar belohnen will.

    Es wird schnell klar: Die beiden Männer haben diverse Marotten, und vor allem Öllers ist ziemlich unberechenbar. Devid Striesow („Tatort“, „Die Fälscher“) spielt ihn gekonnt nah am Wahnsinn. Regelmäßig regt er sich in Telefonaten mit seiner Frau übertrieben auf, ist danach aber wieder ganz kontrolliert und professionell. Katharina Schüttlers („Es kommt der Tag“) Figur der Bianca ist den Männern gleichwertig an die Seite gestellt und nicht nur weibliches Dekor.  Sie ist weniger wahnsinnig, dafür aber sowohl für ihre beiden männlichen Kollegen als auch für den Zuschauer deutlich undurchschaubarer. Ohnehin sind die Hauptfiguren in „Zeit der Kannibalen“ alles andere als eindimensional. Jede Person hat unerwartete und – trotz der zynischen Betrachtung der Beraterwelt - sogar liebenswerte Seiten, mit denen sich die Protagonisten bisweilen gegenseitig überraschen (als es um Menschen „aus der Zone“ geht, kommt es zum Beispiel zu folgendem amüsanten Dialog: „Ich bin aus Erfurt.“ - „Warum hast du das nie gesagt?“ - „Ich wusste nicht, dass es eine Meldepflicht gibt“).

    Die Dialoge schwanken zwischen schlagfertigem Humor, diskriminierenden Äußerungen allen möglichen Menschen gegenüber und blankem Zynismus. Dabei gelingt Regisseur Naber das Kunststück, die Balance so zu halten, dass es weder langweilig wird noch übertrieben ist. Das liegt auch an den Darstellern, die zwar einerseits ihre Figuren grandios überzeichnen, jedoch immer noch so realistisch halten, dass man sich jeden Satz im echten Leben vorstellen kann – auch wenn man hofft, dass es solche Menschen möglichst nicht allzu häufig gibt. Während gesperrte Kreditkarten und mit Scheidung drohende Ehefrauen für Unruhe sorgen, wird aus den sporadisch von draußen zu hörenden Schüssen unverhofft ein Bürgerkrieg. Und plötzlich steht eine echte Bedrohung für Leib und Leben buchstäblich vor der Tür. Nun wird gekotzt und gebetet und die bisherige, nonchalante Art der Problembewältigung weißer, überheblicher Menschen weicht sehr schnell dem blanken Überlebenswillen, was sich auch in der Inszenierung wiederspiegelt: Wenn die Protagonisten sich hinter dem Bett verkriechen, während die verbarrikadierte Tür gewaltsam geöffnet wird, wird auch die zuvor recht ruhige Kamera plötzlich wild bewegt.

    Fazit: „Zeit der Kannibalen“ ist eine Komödie mit konsequent groteskem Humor, die von den Leistungen der drei Darsteller mühelos getragen wird.

    Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2014. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 64. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.

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