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    Wild Diamond
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Wild Diamond

    Die französische Kim Kardashian

    Von Christoph Petersen

    Liane (Malou Khebizi) hat sich letztes Jahr die Brüste machen lassen, die Lippen hat ihr eine Freundin aufgespritzt, aber von der Hyaluronsäure ist inzwischen kaum noch etwas übrig. Nun stehen eigentlich Po-Implantate auf dem Programm, aber die sind so teuer, dass die 19-Jährige dafür erst noch den nächsten Schritt auf der Influencerinnen-Karriereleiter erklimmen muss, um sie sich leisten zu können. Ein Glück, dass eine Agentin für die neunte Staffel des Reality-TV-Formats „Magical Island“ angerufen hat. Bereits die Ankündigung, dass sie zum Casting für das Format geht, hat die Zahl von Lianes Followern auf Instagram von 10.000 auf 30.000 in die Höhe springen lassen.

    Das klingt erst mal alles so, als würde es sich Agathe Riedinger in ihrem ersten Spielfilm „Wild Diamond“, mit dem sie direkt in den prestigeträchtigen Wettbewerb des Cannes Filmfestivals eingeladen wurde, ganz besonders einfach machen: Das Bashen von Influencer*innen ist schließlich nicht nur schwer angesagt, es kann auch wirklich jeder. Aber Liane ist ganz anders, als man es aufgrund ihres Aussehens sowie ihres Social-Media-Auftritts erwarten würde: Stellvertretend für ihre unfähige Mutter kümmert sie sich fürsorglich um ihre kleine Schwester – und auch wenn es bloß niemand wissen soll, ist sie immer noch Jungfrau.

    Pyramide Films
    Liane (Malou Khebizi) führt für ihre Follower einen Tanz auf, der speziell auf TikTok gerade schwer angesagt ist.

    Es gibt viele Momente, über die man sich amüsieren kann: die Fingernägel, die TikTok-Tänze, die spontane Freundinnen-Party, wenn regelrecht zeremoniell 600 Euro für ein Kleid auf den Tresen geknallt werden, obwohl die Familie mit der Miete vier Monate im Rückstand ist. Aber im Kern bleibt „Wild Diamond“ ein tragischer Film, denn für Liane ist Berühmtheit kein Mittel zum Zweck, sondern gleichbedeutend mit einer Freiheit, die sie ohne Schulabschluss und mit Sozialbauhintergrund sonst niemals erreichen könnte. Man versteht irgendwann, was sie antreibt. Das gibt der Figur ihre Würde zurück – und erinnert in den allerbesten Momenten sogar an Rebecca Zlotowskis ebenfalls an der Côte d'Azur angesiedelten „Ein leichtes Mädchen“.

    Doch so richtig will der Funke trotzdem nicht überspringen. Zwar liefert Malou Khebizi in ihrer allerersten (!) Schauspielrolle eine mitreißende, unfassbar authentische Performance ab – da könnte man zwischendurch fast schon auf die Idee kommen, es mit einer Hybrid-Doku zu tun zu haben, so echt wirkt das alles. Aber alles um sie herum ist leider weit weniger überzeugend: die eifersüchtige Mutter, der verständnisvolle Freund, die reichen Arschlöcher, all das bleiben Klischeefiguren ohne Kontur. Auch wie Social Media und Reality-TV hier funktionieren, fühlt sich nie glaubhaft an – vor allem das geschwollene Sprechen der nie tatsächlich im Bild zu sehenden Reality-TV-Agentin reißt einen immer wieder raus.

    Pyramide Films
    Eigentlich findet Liane Nathan (Alexis Manenti) ja richtig gut. Aber als sie sieht, wie er von seinem Chef herumgescheucht wird, verliert sie das Interesse – sie will unbedingte Freiheit um jeden Preis.

    Stattdessen gibt es die üblichen Rückschläge aus dem Einmaleins des Prekariats-Problemkinos – Mietschulden, beim Klauen erwischt werden, der verhasste neue Typ der Mutter. Auch visuell lässt sich „Wild Diamond“ kaum auf seine Protagonistin ein: Statt Anleihen bei TikTok & Co. gibt es dieselben hochwertig-lyrischen Bilder, die seit Jahren das internationale Festivalkino dominieren. Sowieso liegt der Verdacht nahe, dass die Debüt-Regisseurin schon beim Dreh in der südfranzösischen 60.000-Einwohner*innen-Stadt Fréjus etwas zu sehr in Richtung des nur 40 Kilometer entfernten Cannes geschielt hat:

    Als Liane erklärt, wie eine berühmte Influencerin selbst von den größten Marken für Werbekooperationen angeheuert wird, erwähnt sie nur das Cannes-Filmfestival explizit mit Namen. Ganz so, als ob da nicht luxuriöse Parfüm-, Bekleidungs- oder Accessoire-Marken in der Lebenswelt einer 19-jährigen Social-Media-Süchtigen viel näher lägen. Bei der Wettbewerbsvorstellung gab es dafür natürlich einen lauten Lacher, aber davon hat das reguläre Publikum später im Kino leider wenig.

    Fazit: Mehr noch als ihre Figur hat Newcomerin Malou Khebizi definitiv das Zeug zum Star – eine wahrhaft grandiose Performance! Aber der Film um sie herum folgt allzu brav dem klassischen Prekariats-Problemfilm-Schema, um tatsächlich mitzureißen.

    Wir haben „Wild Diamond“ beim Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er im offiziellen Wettbewerb gezeigt wurde.

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