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    Achteinhalb
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    5,0
    Meisterwerk
    Achteinhalb
    Von Christian Horn

    Der Filmkritiker, der ganz am Ende von „8 ½“ einen Monolog hält, bringt ein, wenn auch nicht das Thema des Films auf den Punkt. Völlig auf den Punkt bringen könnte er „8 ½“ auch gar nicht: Allenfalls umkreist werden kann Federico Fellinis vieldeutiges und assoziatives Filmstück; ganz einfach deshalb, weil „8 ½“ selbst seine Themen nur umkreist.

    „Die schöne Konfusion“, so lautete der Arbeitstitel von „8 ½“. Und so kommt man auch der Geschichte des Films am nächsten, die von einem Regisseur handelt, dem der Stoff für einen weiteren Film ausgegangen ist. Guido Anselmi heißt der scheiternde, eigentlich sogar schon längst gescheiterte Filmemacher, Marcello Mastroianni („La Notte – Die Nacht“, „Das große Fressen“) spielt ihn und als ein Alter Ego von Federico Fellini (Amarcord) kann er verstanden werden.

    Bis zu einem gewissen Grad fruchtet bei einer Analyse von „8 ½“ die biografische Methode, denn nach seinem Erfolg mit Das süße Leben wusste Fellini tatsächlich nicht, wie er seinen nächsten Film angehen sollte. Ideen und Skizzen hatte der Regisseur zwar, aber keine Linie, keine Struktur und vor allem keine stringente Geschichte, weshalb der Drehtermin immer wieder verschoben wurde. Da Fellini vor „8 ½“ sechs Kinofilme gedreht hatte und drei Filme, die er halb zählte (zwei Kurzfilme und eine Co-Regie), heißt das Werk nun so wie es heißt. Letztlich verfilmt Fellini in „8 ½“ also seinen eigenen künstlerischen Stillstand. Er macht es sich zunutze, dass er keine Story im eigentlichen Sinne erzählt oder „auf die Reihe“ bekommt, er kümmert sich nicht um den fehlenden roten Faden, der das Eine zwingend auf das Andere folgen lässt, oder die unfertige Struktur. Ganz im Gegenteil stellt er diese Strukturmerkmale des Films aus und reflektiert sie permanent: Etwa durch die betont artifiziellen, streng arrangierten Schwarz/Weiß-Tableaus, den Wechsel zwischen verschiedenen Realitäts- und Abstraktionsebenen und auch ganz direkt in den vielen Gesprächen über das Filmemachen, die immer auch „8 ½“ selbst meinen und das Geschehen auf der Leinwand direkt kommentieren.

    Die Hauptsache sei es, alle Ideen in den Film reinzustopfen, heißt es einmal in „8 ½“ – und das macht Fellini dann auch. Bis zum Rand ist der Film mit Verweisen und Themen angefüllt; Coca-Cola-Werbung steht neben Katholizismus, Traum neben Realität, der Film im Film neben dem Film, die Geliebte (Sandra Milo) neben der Ehefrau (Anouk Aimée), das Autobiographische neben dem Allgemeinen. Es geht um Wahrheit und Lüge, aber auch das ist nur die halbe Wahrheit. Es geht nämlich auch um den Entstehungsprozess eines Films, um das Scheitern eines Künstlers und eine Selbstthematisierung des Mediums, die auch nach heutigen Maßstäben ungeheuer modern erscheint. Fellini ist der wichtigste, produktivste und energischste Erneuerer des italienischen Neorealismus und besonders „8 ½“ macht das nachhaltig deutlich, steht er doch eindeutig in einer dialektischen Verwandtschaft zur französischen Nouvelle Vague, die sich Anfang der Sechziger anschickte, das Kino zu modernisieren. Vor allem der Vergleich zu Jean-Luc Godards Die Verachtung (ebenfalls aus dem Jahr 1963) drängt sich auf. Dass „8 ½“ in diesem filmhistorischen Kontext, bei der Modernisierung des Kinos also, eine Schlüsselrolle einnimmt, steht außer Frage.

    Modern wird „8 ½“ vornehmlich durch seine assoziative und sprunghafte Erzählweise, also dadurch, dass er mehr Skizze als stringentes Erzählwerk ist. Die Szenen kreisen allesamt um mehrere thematische Kerngedanken, sind insgesamt aber doch nur in einer losen Folge miteinander verbunden. In einer auf den ersten Blick gar nicht so zentralen Szene liegt Guidos Geliebte nach dem Sex im Bett, liest ein Comic und raucht. Fellini und die Comics: Auch da kann man ansetzen. Nach eigenen Angaben war Fellini über das Filmgeschehen seiner Zeit nicht sonderlich gut informiert und ging nie ins Kino, die aktuellen Comics kannte er aber immer. Und so wirkt nicht nur die skizzenhafte und mit Popkultur angereicherte Narration des Films, sondern auch der erhöhte Stilwillen oft wie aus der Comic-Kunst adaptiert. Die vielen eingefrorenen Gesichter und Bilder, die Schwenks, Großaufnahmen und Zooms erwecken zumindest diesen Eindruck.

    Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die Eröffnungsszene, die in verschlüsselter Form bereits einen Großteil des Films umreißt: Guido steckt fest, im Tunnel ist Stau. Er droht in seinem Auto zu ersticken und während Fellini kurze Blicke in die anderen Autos wirft, in denen sich hochgradig stilisierte Szenen abspielen, entspinnt sich ein fast schon surrealer, auf jeden Fall aber unwirklicher Kampf auf Leben und Tod. Ab der dritten Minute folgt eine Bildfolge wie aus einem Comicband: Die Nahaufnahme eines älteren Mannes, der das Treiben streng beobachtet; die Kamera fährt hoch, zoomt leicht zurück in eine Halbtotale (das nächste Panel) und zeigt ein Paar, das gleichgültig ins Leere starrt. Ein Rechtsschwenk, verbunden mit einer Kamerafahrt, mündet ins dritte Panel, das Guido ins Bild rückt, bei dem die Bildfolge auch ihren Anfang genommen hat: Der Protagonist setzt gerade zum Flug an, wobei sein flatternder Mantel wie eine filmische Adaption der Bewegungslinien des Comics erscheint. Er hebt ab, fliegt über einen Strand und wird mit Hilfe eines Seiles, das an seinem Fuß befestigt ist, auf den Boden (der Tatsachen) gezerrt – unsanfte Bruchlandung inbegriffen. Sein wichtigstes thematisches Spielfeld, das Ringen und Scheitern sowie die Angst vor dem Versagen, hat „8 ½“ also schon nach zweieinhalb Minuten abgesteckt. Seinen Inszenierungsstil, der wie eine Abfolge von Tableaus anmutet und sehr subjektiv aus der Perspektive Guidos erzählt, sowie die eigenartige Vermischung der Realitätsebenen, wegen der „8 ½“ oft als „traumhaft“ beschrieben wird, ebenfalls.

    Letztgültig oder gar erschöpfend beschrieben ist „8 ½“ mit diesen analytischen Skizzen keineswegs. Anknüpfungspunkte gibt es in Fellinis Film noch viele mehr, etwa die Beziehung Guidos zu den Frauen, die in der fulminanten Harem-Szene kulminiert. Oder seine innere Zerrissenheit, die unter anderem an seiner Zwischenstellung zwischen der intellektuellen Ehefrau und der erotisch-durchtriebenen Geliebten ablesbar ist. Auch das unübersehbare selbstreferenzielle Element von „8 ½“ ließe sich weiter verfolgen und beispielsweise anhand der Szene im Vorführraum analysieren, in der Guido und sein Team die ersten Probeaufnahmen anschauen: „Die alten, die von vor fünf Monaten, und die neuen“, wie der Produzent bekannt gibt. Die einzige Szene übrigens, die einen direkten Blick auf den Film im Film preisgibt, der – wie „8 ½“ selbst – auch biografische Elemente verarbeitet (nur eine von vielen Spiegelungen).

    Dass „8 ½“ die Film-Seminare und Cineasten dieser Welt immer und immer wieder beschäftigt, dass er immer wieder neu untersucht, analysiert und eingeordnet wird und ganz unterschiedlichen Theorie-Ansätzen als reichhaltiger Fundus dient (kurzum: sich immer wieder neu und unter neuen Vorzeichen entdecken lässt), verdankt er seiner thematisch und stilistisch breit gestreuten Vielfalt sowie der Tatsache, dass er zwar offen konzipiert, aber nie beliebig ist: „8 ½“ geht auch in die Tiefe, viel mehr aber noch in die Breite. Im Rahmen einer Filmkritik kann man Fellinis Film daher bestenfalls skizzieren und das Sehen und Wiedersehen schmackhaft machen: Textfleisch gibt es in „8 ½“ noch viel mehr zu entdecken, aber so einfach in einen Text übertragen lässt sich das nicht – „8 ½“ ist eben ein Film, in dem alles vorkommt.

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