Nur 6 Monate nach Kinostart läuft heute eines der größten Meisterwerke 2024 erstmals im TV: 4 unvergessliche Stunden
Sidney Schering
Sidney Schering
-Freier Autor und Kritiker
Schon in der Grundschule las er Kino-Sachbücher und baute sich parallel dazu eine Film-Sammlung auf. Klar, dass er irgendwann hier landen musste.

Diesen erschütternden Film kann man nicht abschütteln – und genau so sollte es sein: „Die Ermittlung“ konfrontiert das Publikum in Form eines nüchternen Justizfilms mit den menschlichen Abgründen und den abscheulichen Verbrechen in Auschwitz.

Heute, am 27. Januar 2025, jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 80. Mal. Aus diesem Anlass widmen sich mehrere Sender den unvorstellbar wirkenden, unverzeihlich realen Verbrechen des NS-Regimes und seiner unzähligen Gefolgsleute. Einen besonders eindringlichen Beitrag gegen das Vergessen und bedeutsamen Appell, sich gegen erneute Anfänge zu wehren, leistet arte.

Denn arte zeigt heute ab 21.45 Uhr den vierstündigen Justizfilm „Die Ermittlung“, der zu den erschütterndsten Filmen 2024 gehört und mit fünf Sternen in der FILMSTARTS-Kritik Meisterwerk-Status innehält. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Regisseur RP Kahl eine im Medium Film ungewohnte Herangehensweise wählt, um die Grauenhaftigkeit des Holocaust aufzuzeigen: Es geht nicht um neue Recherchen, filmisch zugespitzte Biografien oder eine beklemmende Bild- und Klangästhetik.

In „Die Ermittlung“ nutzt Kahl eine nüchterne, bühnenhafte Aufbereitung des ersten deutschen Auschwitz-Prozesses und gibt in reduzierter Kulisse den erschütternden Nacherzählungen wahrer Verbrechen sowie abscheulichen Rechtfertigungsversuchen mahnenden Raum. Das macht dieses Justizdrama zu einem der intensivsten, eindringlichsten und wichtigsten Filme des vergangenen Jahres.

Man muss hoffen, dass ihn sich möglichst viele Menschen anschauen und seine ungebrochen brandaktuelle Botschaft gegen Faschismus und Entmenschlichung verinnerlichen. „Die Ermittlung“ lässt sich in voller Länge auch in der arte-Mediathek abrufen, außerdem befindet sich die Produktion in der ARD-Mediathek als serielles Format in elf Episoden.

"Die Ermittlung": Unvergessliche Worte über unmenschliche Taten

1963 bis 1965, der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess findet statt: Ein Richter (Rainer Bock), ein Ankläger (Clemens Schick) und ein Verteidiger (Bernhard Schütz) haben die Aufgabe, sich mit der systematischen Vernichtung von über einer Million Menschen auseinanderzusetzen. Im Zuge dieser aufwühlenden Verhandlung treffen 39 Zeug*innen auf 18 Angeklagte:

Die Opfer konfrontieren die Täter unmittelbar mit ihren eiskalten Schandtaten und verdeutlichen so auf erschütternde, aufrüttelnde Art die unvorstellbaren Gräuel des Holocaust – sowie die unmenschliche Mechanik, mit denen sie durchgeführt wurden. Die Angeklagten rechtfertigen sich zumeist durch abstruse Verklärung der Umstände, umfassende Verleugnung und ständige, erlogene Verweise auf Befehlsnotstand.

Die verstörende, vor einer Wiederholung warnende Macht des gesprochenen Wortes und die gewissenlose Mimik der Angeklagten sind die zentralen Gründe, weshalb „Die Ermittlung“ einen minimalistischen Stil haben muss: Kahl gestattet keinerlei Flucht vor dem Gesagten, das dem gleichnamigen, dokumentarischen Stück des Dramatikers Peter Weiss entliehen ist.

Eine karge Bühne, zurückhaltende Lichtsetzung und Mahnmale von Monologen: Die über 60 Personen große Besetzung von „Die Ermittlung“, zu der beispielsweise Nicolette Krebitz, Peter Lohmeyer, Christiane Paul, Michael Schenk, Sabine Timoteo und Tom Wlaschiha gehören, stellt die Schilderungen des Leides und der fabrikartigen Abläufe in den Mittelpunkt. Nahezu allein flankiert durch das Hintergrundgeschehen auf der Angeklagtenbank, auf der abschätzig dreingeblickt, hämisch geschnaubt oder selbstgefällig gegrinst wird.

Es sind wohlgemerkt Mikroaggressionen, die da erzürnen. Das Ensemble verzichtet bewusst auf emotionale Ausbrüche, die das von den Opfern Gesagte untermauern und die Abscheulichkeit der zuhörenden Täter verdeutlichen sollen, aber vom Kern des Films ablenken könnten. Allein die im Prozess dargelegten Fakten und der Mangel an angebrachten Reaktionen auf sie sollten sprechen – und das geschieht mit Nachhall:

„Die Ermittlung“ verdeutlicht schmerzhaft, welch abartige Lüge „Wir haben doch nichts gewusst“ ist und dass der Ruf „Nie wieder!“ niemals verstummen sollte. Botschaften, die ein weiteres filmisches Glanzlicht 2024 auf ganz andere, aber nicht minder unvergessliche und dringliche Weise vermittelt:

Ein Schlag in die Magengrube: Den verstörendsten (und wichtigsten) Film des Jahres gibt's ab sofort im Streaming-Abo
facebook Tweet
Ähnliche Nachrichten
Das könnte dich auch interessieren