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    Dieser Disney+-Geheimtipp voller Marvel-Stars ist das Beste, was der "Game Of Thrones"-Macher je geschrieben hat
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Sein erster Kinofilm war Disneys „Aladdin“. Schon in der Grundschule las er Kino-Sachbücher und baute sich parallel dazu eine Film-Sammlung auf. Klar, dass er irgendwann hier landen musste.

    Er war zwar Autor, Regisseur und Co-Showrunner von „Game Of Thrones“, doch das qualitative Highlight in David Benioffs Karriere ist bisher recht unbekannt. Zum Glück könnt ihr den starbespickten Meisterstreich „25 Stunden“ bei Disney Plus nachholen.

    +++ Meinung +++

    Spike Lee möge es mir verzeihen, dass ich nicht ihn als Aufhänger für ein Loblied auf „25 Stunden“ gewählt habe. Denn obwohl dieses Meisterwerk seit 20 Jahren von einem kleinen Kreis passioniert gefeiert wird, ließen sich bisher viel zu wenig Menschen in die Arme von „25 Stunden“ treiben. Also müssen wir wohl den hinterhältigen Weg wählen: „25 Stunden“ basiert auf einem Roman und Drehbuch von David Benioff, also einem der „Game Of Thrones“-Showrunner! Und der liefert hier meiner Ansicht nach sein Karriere-Highlight ab.

    Zudem trommelte Lee ein Ensemble zusammen, das man nun attraktiv mit seinen Marvel-Rollen bewerben kann: „Fight Club“-Protagonist und Ex-Hulk Edward Norton, sie aus „Daredevil“ und weiteren Marvel-Serien bekannte Rosario Dawson, Anna Paquin alias Rogue aus den „X-Men“-Filmen, Vanessa Ferlito aus „Spider-Man 2“ und Quentin Tarantinos „Death Proof“. Was dieser Cast treibt, könnt ihr leicht herausfinden, denn „25 Stunden“ ist bei Disney+ abrufbar.

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    Ist es arglistig, einen unzureichend beachteten Film über diese Schlagworte an ein Publikum heranzutragen? Womöglich – aber es ist auf eine gewisse Weise im Sinn des Films. Denn der nutzt auch Lockmittel, bevor er mit schwereren Elementen ankommt: Er tritt zunächst als Gangsterdrama auf, entpuppt sich aber als raffiniertes, berührendes und verletzliches Psychogramm eines geknickten Kleinverbrechers sowie einer traumatisierten Weltstadt...

    "25 Stunden" auf Disney+: Edward Norton streift durch ein verletztes New York

    Drogendealer Monty Brogan (Edward Norton) wurde zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt. Seine letzten 25 Stunden in Freiheit verbringt er mit einer Abschiedstour, die ihn unter anderem zu seinem Vater (Brian Cox) führt. Der will Monty überreden, stiften zu gehen, aber er weigert sich. Stattdessen feiert er mit seiner Freundin Naturelle (Rosario Dawson) sowie seinen Kumpeln Frank (Barry Pepper) und Jacob (Philip Seymour Hoffman). Letzterer ist Lehrer an einer High School und hat sich in Mary D'Annunzio (Anna Paquin) verliebt, eine seiner Schülerinnen...

    Während dieser Begegnungen wird Monty in Dramen gezogen, deren Ausgang er nicht miterleben wird. Auch sein Umfeld trägt durch diesen langen Tag emotionale Narben davon, während er offene Fragen klärt und um letzte Gefallen bettelt. Außerdem atmet Monty ein vorerst letztes Mal die Atmosphäre seiner Heimatstadt. Die hat sich allerdings noch nicht von den Terroranschlägen des 11. Septembers erholt...

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    In einem kurzen Prolog lernen wir Monty als impulsiven Kerl mit großem Herz kennen, der jegliche Bedenken hinter sich lässt, um einen gequälten Hund zu retten. Es folgt ein gespenstischer Vorspann mit ehrfurchtgebietenden Bildern, die die Stadt, die angeblich niemals schläft, nachts zeigen – leergefegt, überwacht vom Licht zweier Leuchtstrahler, die dort stehen, wo sich einst die Zwillingstürme befanden. Währenddessen erklingt ein tragischer, getragener Score von Jazzmusiker Terence Blanchard, der einem entschlossenen Trauermarsch gleicht.

    An dieses Wechselbad der Gefühle schließt Montys letzter Tag vor Haftantritt an, in dessen Zuge Edward Norton ebenso denkwürdig agiert wie in „American History X“ und „Fight Club“: Norton spielt Monty als niedergeschlagenen, erschöpften Mann, der versucht, in Würde von der Bühne der Freiheit zu schreiten. Dennoch kommt Monty nicht umher, hinter dem resigniert-freundlichen Lächeln unzählige Gefühlsschwankungen auszubaden. Er trudelt durch Kummer, Reue, Verärgerung und Selbstzorn, ebenso wie er in Resignation und Apathie tappt.

    Es blitzen Freude, Weltschmerz und Ratlosigkeit auf, ehe ihn ein Matsch aus Akzeptanz und Handlungsunfähigkeit einholt. Norton lässt uns intensiv daran teilhaben, agiert allerdings gedrosselter als für ihn typisch: Montys Gefühlsleben ist tumultartig, doch die Anzeichen sind genauso ausgeblichen wie die Bilder, die Lee und der spätere „The Irishman“-Kameramann Rodrigo Prieto kreieren.

    Abgesehen von einzelnen atmosphärischen Akzenten der Kontrastübersättigung, setzen sie auf eine grobkörnige, konturlose Ästhetik. Als hätte jemand im Schleudergang die Lebensfreude aus der einst so vibrierenden Stadt gewaschen – nicht aber ihren ins Auge stechenden und im Rachen kratzenden Charakter.

    Aus "Scheiß drauf" wächst ein pochendes Herz

    Die ersten Planungen für „25 Stunden“ begannen noch vor 9/11. Aber als eingefleischter New Yorker kam Spike Lee nicht drum herum, die Folgen des geschichtsträchtigen Tages in sein Projekt einfließen zu lassen. Somit wurde „25 Stunden“ zu einem einzigartigen filmischen Zeitdokument: Das Drama lebt und atmet die zeitlich sehr spezifische kollektive Mentalität einer erschütterten Metropole. Etwa durch eine eindringliche Szene, in der die Ground-Zero-Aufräumarbeiten zu sehen sind, während sich Frank und Jacob über Montys Perspektivlosigkeit unterhalten.

    Auch die sprichwörtlichen Wunden der Stadt sind unentwegt präsent, selbst wenn die zahlreichen Mahnmale und „Wir lassen uns nicht unterkriegen“-Symbole allmählich Staub fangen oder ausbleichen. Dieses Hintergrundrauschen vertiefet die Geschichte: Monty ist ein Spiegelbild eines geschundenen New Yorks – und umgekehrt. Das mündet in einen unvergesslichen Gänsehaut-Moment: Monty wettert beim Anblick eines Toilettenspiegels über sämtliche Personengruppen, die New York ausmachen – und über Osama bin Laden.

    In diesem vulgären Hassmonolog vermischt Monty entnervte Alltagsbeobachtungen, rassistische Klischees und unbequeme Wahrheiten, während unentwegt seine geistige Haltung wechselt: Manche Dinge meint er genau so, wie er sie sagt. Andere behauptet er nur, um in Rage zu bleiben. Manche Beschimpfungen zielen sogar gegen New Yorker Aspekte, die er liebt. Es ist eine als Hass getarnte, brennende Liebeserklärung, die sich letztlich selbst enttarnt:

    Monty versucht, anderen die Verantwortung für sein Leid in die Schuhe zu schieben und sich eine Abneigung gegenüber New York einzureden, damit ihm die anstehende Haft weniger schmerzt. Ein grandios geschriebener Monolog, atemberaubend von Norton vorgetragen und perfekt bebildert! Und diese provokant-dornige Liebeserklärung an eine verletzte Stadt lässt tief in Montys Seele blicken, die sich erfolglos in Leugnung und Selbstbetrug versucht.

    Selbst wer Monty nach diesem kernigen Wutmonolog voll flegelhaftem Charme nicht ins Herz geschlossen hat, dürfte ihm noch verfallen. Denn selbst wenn „25 Stunden“ auch eine Post-9/11-Stadtstudie ist, ist dieser Film in allererster Linie ein fesselndes Drama über einen schlauchenden Tag im Leben komplizierter Menschen. Leute, die im ersten Augenblick wirken, als wären sie Klischees, wie sie in Montys Tirade in der Luft zerrissen werden.

    Doch sukzessive erweisen sie sich als facettenreiche, von Widersprüchen erfüllte Charakterköpfe, die wir nicht etwa trotz, sondern wegen ihrer Fehler (mit Bauchweh) lieben lernen. Allen voran steht natürlich der Hunde rettende Unruhestifter, dessen stille, unspektakuläre und doch niederschmetternde Abschiedstour in einen herzzerreißenden Abschluss mündet, sobald sein Vater zum herzlichen Gegenpart der „Scheiß drauf!“-Ansprache ansetzt. Also bitte, egal ob auf Disney+ oder nicht: Schaut euch diesen Film an! Schmeckt die Gerste aus ihm raus.

    BlacKkKlansman

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