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    La Pivellina
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    La Pivellina
    Von Sascha Westphal

    Seit seinen frühesten Anfangstagen drängt das Kino nun schon in zwei mehr oder weniger entgegensetzte Richtungen. Damals waren es auf der einen Seite die Brüder Auguste Marie Louis Nicolas und Louis Jean Lumière, die einen eher dokumentarisch-realistischen Ansatz vertraten, während Georges Méliès auf der anderen Seite schon sehr früh auf Tricktechniken und das Fiktive wie das Phantastische setzte. Im Lauf des vergangenen Jahrhunderts hat sich an dieser grundsätzlichen Konstellation kaum noch etwas verändert. Nur sind mit Fortschreiten der technischen Entwicklungen die Gräben zwischen beiden Richtungen noch viel breiter geworden. Das Spektrum des Kinos reicht nun von der bis ins letzte Detail perfektionierten Künstlichkeit eines Films wie "Avatar - Aufbruch nach Pandora (Avatar)" bis hin zu dem nahezu ungebrochenen Realismus der Dardenne-Brüder ("Lornas Schweigen"). In deren Fußstapfen bewegen sich nun auch Tizza Covi und Rainer Frimmel mit ihrem Spielfilmdebüt „La Pivellina". Das Drama um ein ausgesetztes zweijähriges Mädchen schließt fast direkt an ihren gemeinsamen Dokumentarfilm "Babooska" an und beschwört die ganz eigene Magie der Wirklichkeit.

    Ein heruntergekommener Spielplatz irgendwo in einer römischen Vorstadt an einem tristen Winternachmittag. Die alternde Schaustellerin Patrizia (Patrizia Gerardi), die von allen nur Patti genannt wird, sucht nach ihrem Hund. Dabei entdeckt sie auf einer Schaukel Asia (Asia Crippa), ein kleines, etwa zweijähriges Mädchen, das von seiner Mutter dort ausgesetzt wurde. In der Tasche ihres Mäntelchens steckt ein Zettel, mit dem die Mutter bittet, dass sich jemand der Kleinen annehmen soll. Sie käme bald zurück und würde das Kind dann wieder abholen. Eigentlich haben Patti und ihr Mann Walter (Walter Saabel) genügend andere Sorgen. Während ihr Zirkus im Winterlager ist, können sie sich schon zu Zweit kaum durchschlagen. Aber das ist angesichts Asias Situation zweitrangig. Also nimmt Patti sie trotz Walters Bedenken, der lieber gleich zur Polizei gehen würde, mit in ihren Wohnwagen. Unterstützt von dem dreizehnjährigen Tairo (Tairo Caroli), der im Wohnwagen gegenüber lebt, nimmt sie sich des Mädchens an und schenkt ihr eine ganz neue Familie.

    Patti und Walter standen schon in „Babooska" vor der Kamera. Damals waren sie ganz sie selbst, eben zwei der Artisten, deren schwieriges Leben Tizza Covi und Rainer Frimmel ungeschminkt, aber auch voller Liebe porträtierten. In „La Pivellina" treten sie erneut unter ihren echten Namen auf. Aber diesmal gleiten sie zusammen mit der kleinen Asia aus der Wirklichkeit in eine Fiktion herein. Dabei bleiben die Grenzen zwischen dem einen wie dem anderen immer fließend. Ein großer Teil der Dialoge wurde improvisiert, was auch deutlich zu spüren ist. Die Gespräche, die Patti, Walter und die anderen führen, klingen ganz und gar natürlich und entwickeln gerade dadurch einen ungeheueren Sog. Die Schausteller und Artisten, die im Sommer immer unterwegs sind, von einer Stadt zur anderen ziehen, leben im Winter am äußersten Rand der Stadt wie auch der Gesellschaft. Dazu passt dann perfekt, dass Tairo zum Lagerplatz durch ein kleines, kaum wahrnehmbares Tor in einem hohen Holzzaun kommt. Sie sind einfach nicht Teil des so genannten „bürgerlichen Lebens" und damit sogar ein Störfaktor.

    Die Südtirolerin Tizza Covi und der Österreicher Rainer Frimmel durchbrechen die Zäune und Mauern, die Patti und ihre Familie wie ihre Freunde von dem Rest der Gesellschaft trennen. Die Distanz, die sonst zwischen ihnen und den anderen, zu denen eben auch das Publikum gehört, besteht, bricht umgehend zusammen. Der betont nüchterne Stil – Covi und Frimmel arbeiten viel mit Handkamera und längeren Einstellungen – verleiht „La Pivellina" etwas durch und durch Dokumentarisches. Die Geschichte von dem Findelkind ist erst einmal eine Fiktion, allerdings eine überaus realistische, doch die Menschen, die sie erleben und tragen, sind so echt, wie sie nur sein können. Pattis Reaktion auf die erste Begegnung mit Asia, die Entscheidung, sie zu sich zu nehmen und wie eine Tochter oder Enkeltochter zu behandeln, ist nicht nur absolut glaubhaft, sie zeugt auch von den Erfahrungen dieser älteren Frau mit den grell roten Haaren. Innerhalb der Gemeinschaft der Zirkusleute herrscht ein Zusammenhalt, der in der heutigen Gesellschaft ansonsten eher verloren gegangen ist. Als Außenseiter, die immer auch um den letzten Rest ihrer Existenz fürchten müssen, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als so fest wie möglich zusammenzuhalten.

    „La Pivellina" steht ohne Frage in einer langen Kinotradition, die von den Dardenne-Brüdern über Ettore Scola („Le Bal – Der Tanzpalast", „Gente di Roma") und Pier Paolo Pasolini („Mamma Roma", "Teorema") direkt zurück zum italienischen Neorealismus führt. Wie dessen eindringlichste Werke verströmt auch Cozzis und Frimmels erster Spielfilm einen unwiderstehlichen Zauber. Die Wirklichkeit, der triste Alltag einer Gruppe von Ausgeschlossenen, bekommt einen Zug ins Erhabene – und das, obwohl die beiden Filmemacher niemals der Versuchung erliegen, ihre Figuren zu idealisieren oder zu romantisieren. Patti und die anderen sind keine besseren Menschen, nur weil sie arm und isoliert sind. Ihre Erfahrungen spiegeln sich nur eben sehr deutlich in ihren Entscheidungen wider: Einmal kommt Tairo zu Walter und bittet ihn um Hilfe. Der alte Clown und Artist soll ihm das Boxen beibringen, damit er sich gegen andere Jugendliche verteidigen kann. Walter erklärt ihm daraufhin, dass nur, wer auch bereit ist, seinem Gegenüber Schmerzen zuzufügen, einen Kampf gewinnen kann.

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