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    Stoker
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Stoker
    Von Christoph Petersen

    „Stoker" ist das US-Debüt des koreanischen FILMSTARTS-Favoriten Park Chan-wook („Oldboy", „Lady Vengeance"). Noch bemerkenswerter ist jedoch die Herkunft des doppelbödigen Drehbuchs, das 2010 auf der Black List der besten unproduzierten Skripte Hollywoods landete. Das stammt nämlich von Serienstar Wentworth Miller („Prison Break"), der sich nach acht Jahren Arbeit dazu entschloss, es den Produzenten lieber unter dem Namen seines Hundes anzubieten, weil er Angst hatte, der erste Schreibversuch eines Schauspielers könnte nicht ernstgenommen werden. Wahrscheinlich hat Miller damit sogar alles richtig gemacht (selbst wir haben gestutzt, als sein Name erstmals in diesem Zusammenhang aufgetaucht ist), aber in einer gerechten Welt wäre das Skript so oder so verfilmt worden: Es ist nämlich schlichtweg brillant! Ein Psycho-Puzzle in bester Hitchcock-Manier, das auf engem Raum und mit nur wenigen Figuren ein Höchstmaß an Spannung entfaltet. Und dann kommt auch wieder Park ins Spiel: Die elegant-formstrenge Inszenierung des koreanischen Kultregisseurs macht „Stoker" endgültig zu einem der Thriller-Highlights 2013.

    Als India Stoker (Mia Wasikowska, „Alice im Wunderland") ihren heißgeliebten Vater Richard (Dermot Mulroney) ausgerechnet an ihrem 18. Geburtstag überraschend durch einen Autounfall verliert, droht der sensiblen Einzelgängerin ein unerträgliches Dasein auf dem abgelegenen Familienanwesen allein mit ihrer entfremdeten Aristokraten-Mutter Evelyn (Nicole Kidman, „Moulin Rouge"). Doch dann taucht bei der Beerdigung plötzlich Richards lange verschollen geglaubter Bruder Charlie (Matthew Goode, „Watchmen") auf. Der charmante Weltenbummler verdreht nicht nur Evelyn den Kopf, sondern reißt mit seiner einnehmend-höflichen Art auch seine Nichte aus ihrer Lethargie. Als India hinter das düstere Geheimnis ihres Onkels kommt, rennt sie deshalb auch nicht gleich zur Polizei...

    In der ersten Szene des Films sitzt India im stilvoll eingerichteten Familienanwesen am Klavier, während eine schwarze Spinne langsam an ihrem Bein hinaufwandert. Und genau wie die Antwort auf die Frage, wo die Spinne herstammt und warum India sie nicht sofort hinwegwischt, ist auch die Gefahr in „Stoker" lange Zeit nicht greifbar. Während die Merkwürdigkeiten der Familie eingeführt werden (India bekommt jedes Jahr zum Geburtstag das gleiche Paar Schuhe, außerdem scheint ihr Onkel per Gedankenübertragung mit ihr kommunizieren zu können), weiß der Zuschauer lange nicht, wovor er sich eigentlich konkret fürchten muss, er fühlt nur, dass es so nicht mehr lange gutgehen kann. Durch die präzise Kameraarbeit und das unkonventionelle Spannungsverhältnis, in das Miller die Figuren zueinander setzt, entsteht eine einzigartig-intensive Atmosphäre. Dialoge und Plot spielen hingegen nur eine untergeordnete Rolle.

    Für den geneigten Zuschauer gibt es noch viel mehr in „Stoker" zu entdecken als einen stilbewussten Coming-of-Age-Thriller, denn Park ist ein „Vertigo"-Verehrer! Es gibt laut eigener Aussage keinen Film, der den Koreaner mehr beeinflusst hat als Hitchcocks größtes Meisterwerk. Doch Parks streng-kalkulierte Inszenierung, bei der die Wirkung jedes Kameraschwenks auf den Zuschauer genau durchdacht ist, bleibt nicht die einzige Parallele zum Filmschaffen des Master of Suspense. Denn wenn man das stimmige Skript in seine Einzelteile zerlegt, bleibt immer noch ein Sammelsurium an Anspielungen auf so ziemlich alle Hitchcock-Filme übrig. Einen Onkel Charlie gab es zum Beispiel auch in „Im Schatten des Zweifels", in dem Joseph Cotten den zuvorkommend-verschlagenen Witwenmörder mimte. Und dass Park bei einer Duschszene in „Stoker" mit den Erinnerungen des Publikums an die Ermordung von Janet Leigh in „Psycho" jongliert, dürfte auch wenig filmbewanderten Zuschauern sofort auffallen. Aber wir wollen euch ja auch nicht alles vorkauen: Warum genau Debütautor Miller die Familie nach dem „Dracula"-Erfinder Bram Stoker benannt hat, müsst ihr deshalb schon selbst herausfinden.

    Im Vorfeld der Dreharbeiten wirbelte das übliche Casting-Karussell bei „Stoker" besonders rasant. Jodie Foster und Carey Mulligan waren bereits besetzt, bevor sie wieder ausstiegen und durch Nicole Kidman bzw. Mia Wasikowska ersetzt wurden. Und auch für die Rolle des Onkel Charlie waren vor Matthew Goode schon eine Reihe anderer Hochkaräter (darunter Colin Firth und James Franco) im Gespräch. Aber den Verflossenen braucht niemand auch nur eine Träne nachzutrauern! Wasikowska brilliert als sensible Seele, die im Schatten ihres Onkels langsam aus ihrem Schneckenhaus herauskriecht, bis sie der versammelten Verwandtschaft zeigt, wo der Hammer hängt. Kidman erträgt ihr Leben als schon vor dem Tod ihres Mannes vereinsamte Evelyn mit eiskalt-aristokratischer Eleganz (sowie einem routinierten Griff zu Hochprozentigem). Und Goode verkörpert Onkel Charlie so charmant und zuvorkommend, dass man vor ihm einfach Angst bekommen muss!

    Fazit: Spannend, ein bisschen verrückt, großartig gespielt und noch großartiger inszeniert – Kultregisseur Park Chan-wook liefert mit seinem Hollywoodeinstand „Stoker" die ultimative Hitchcock-Hommage.

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