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    Nichts ist besser als gar nichts
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Nichts ist besser als gar nichts
    Von Lars-Christian Daniels

    Mit dem auf zahlreichen Festivals prämierten Experimentalfilm „Wie ich ein freier Reisebegleiter wurde" kreierte der in Berlin lebende Filmemacher und Videokünstler Jan Peters 2007 eines seiner populärsten Werke. Der mit dem Preis der deutschen Filmkritik ausgezeichnete 15-minütige Kurzfilm schildert im pseudo-dokumentarischen Stil, wie sich Peters am Frankfurter Flughafen ein paar Euro dazuverdient, indem er Reisenden anbietet, sie auf seinem U-Bahn-Gruppenticket mitfahren zu lassen. Der Regisseur näherte sich in seinem Kurzfilm auf humorvolle Weise einem ernsten Thema: dem Leben an der Armutsgrenze in einer Gesellschaft, in der sich die Erwerbsverhältnisse immer stärker in Richtung Geringverdiener und Minijobs verschieben. Eine Entwicklung, deren Ursachen zu komplex sind, als dass man sie in fünfzehn Minuten abhandeln könnte. Grund genug also für den Künstler, die Folgeerscheinungen dieser Problematik intensiver zu beleuchten und seinen Kurzfilm auf die sehenswerte Produktion „Nichts ist besser als gar nichts" auszubauen. Die im für Peters typischen Tagebuchstil inszenierte Dokumentation erweist sich letztlich aber als zu harmlos, um einen nicht nur unterhaltsamen, sondern auch wertvollen Beitrag zur Diskussion um Ich-AGs und Ein-Euro-Jobber zu leisten.

    Musste Jan Peters in seinem Viertelstünder noch einleitend von einem Rentner auf die ungewöhnliche Geschäftsidee gebracht werden, ist der Filmemacher in „Nichts ist besser als gar nichts" von Beginn an selbst Hauptdarsteller und Geschäftsführer eines Ein-Mann-Unternehmens. Der Filmemacher hat gerade seine Freundin am Frankfurter Flughafen in den Südamerika-Urlaub verabschiedet, als er mit Schrecken feststellen muss, dass sich seine Brieftasche samt Geld und EC-Karte noch in ihrem Handgepäck befindet. Sein einziges verbliebenes Kapital ist die Gruppenkarte des Rhein-Main-Verkehrsverbunds in seiner Hosentasche. Um an Bargeld zu kommen, bietet er Touristen an, sie gegen ein kleines Entgelt durch die Stadt zu transportieren. Was als aus der Not geborene Aktion beginnt, entwickelt sich schon bald zu einer echten Einnahmequelle. Dank der wertvollen Tipps eines Unternehmensberaters, den Jan regelmäßig durch die Bankenmetropole fährt, wird aus dem klammen Reisebegleiter kurzerhand das Projekt „Maintours" – natürlich mit eigener Corporate Identity und dem Firmenmotto „Sei fit, fahr mit!"...

    Anders als in „Wie ich ein freier Reisebegleiter wurde" dient die Ticket-Sharing-Idee in der an Scripted-Reality-Formate erinnernden Langproduktion primär einem Handlungsrahmen, der die kauzigen Tagelöhner und Hartz-IV-Empfänger, die der Kleinunternehmer bei seiner Odyssee durch „Mainhattan" kennenlernt, miteinander in Verbindung setzt. Peters trifft auf eine denkbar bunte Mischung deutscher Geringverdiener: einen Gebäudereiniger-Azubi, einen schneidezahnlosen Fotografen, Pfandflaschensammler, die ihr Territorium verteidigen, einen Feuerzeugverkäufer, eine Tagesmutter mit politischen Visionen, jede Menge Halbstarke mit Migrationshintergrund und nicht zuletzt eine Gruppe von Minijob-Imkern, die Bienenschwärme als neuen Lebensinhalt entdecken und sich ganz ihrem selbstgeernteten Honig hingeben. Einzig der erfolgreiche Unternehmensberater, dessen anfangs noch augenzwinkernde Ratschläge schnell zu einer Philosophie reifen, sticht aus der skurrilen Armee der Mittellosen heraus.

    Trotz reichlich Kamerapräsenz ist Jan Peters stets um den neutralen Blickwinkel eines Dokumentarfilmers bemüht. Er verzichtet darauf, sich zum Protagonisten aufzuschwingen, erläutert zahlreiche Sequenzen aus dem Off und fokussiert sich auf seine charismatischen Weggefährten. Diese teilen nicht nur das Leben an der Armutsgrenze, sondern sind allesamt authentisch und spielen sich selbst. Fast jeder der Charaktere erweist sich dabei als reizvoll, wenngleich man sich wünscht, Peters hätte der einen oder anderen Randfigur – zum Beispiel dem Pitbull-Cap tragenden Imker oder dem einsamen Demonstranten vor der Zentrale der Deutschen Bank – noch ein wenig mehr Zeit eingeräumt.

    Wer Kritik an Vater Staat im Stile eines Michael Moore („Bowling for Columbine", „Fahrenheit 9/11") erwartet, sitzt im falschen Film – Peters verzichtet auf Polemik und bezieht zu den sozialpolitischen Fragen, die seine inszenierte Milieustudie aufwirft, selten Stellung. Er ist kein anklagender Idealist, der die Welt im „Muxmäuschenstill"-Stil gerechter und ehrlicher gestalten will, sondern liefert dem Zuschauer Denkanstöße. Dies ist auf der einen Seite erfreulich unaufdringlich, lässt im Nachgeschmack aber stellenweise die Fisch- oder Fleischnote vermissen. So wird zum Beispiel die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle deutschen Staatsbürger zwar kurz angesprochen, die kontroverse Diskussion mit einem SPD-Abgeordneten aber nur knapp zusammengefasst, statt sie vor laufender Kamera zu zeigen.

    Nichtsdestotrotz liefert „Nichts ist besser als gar nichts" einen sehenswerten Einblick in eine Welt, in der der Wert einer PET-Flasche noch geschätzt wird und von Stütze lebende Mitbürger im Chaos ihrer Ein-Zimmer-Appartements nach sorgfältig ausgearbeiteten Businessplänen suchen. Die Antwort auf die Frage, wie sich die zunehmend breiter klaffende Lücke zwischen Arm und Reich überbrücken lässt, überlässt Jan Peters jedoch lieber anderen.

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