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    Michael
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Michael
    Von Ulf Lepelmeier

    Der mediale Blätterwald im Jahre 2008 wurde von der mal diskreten, mal voyeuristischen Berichterstattung zu den erschütternden Fällen von mehrjähriger Freiheitsberaubung und Kindesmisshandlung dominiert. Die Martyrien der Opfer schockierten und zogen zugleich ein reges Interesse an ihren unmenschlichen Lebensbedingungen nach sich. Auch Regisseur Markus Schleinzer konnte sich der düsteren Faszination dieser Fälle nicht entziehen und entschied sich dafür, das prekäre Thema des Kindesmissbrauchs in seinem Debütfilm mit realistischem, unsentimentalem Blick zu thematisieren. „Michael" erinnert dabei mit seiner präzisen Inszenierung an den Stil Michael Hanekes („Das weiße Band", „Caché"), für dessen jüngere Werke Schleinzer als Casting-Director tätig war. Schleinzer schafft das aufreizend unprätentiöse Porträt einer nunmehr leicht denkbaren Täterfigur. „Michael" ist ein thematisch brisantes, schauspielerisch erschreckend überzeugendes und inszenatorisch dichtes Debütwerk.

    Michael (Michael Fuith) ist ein unauffälliger, bieder wirkender Versicherungsangestellter, der es versteht, seinen Mitmenschen ein Bild der Normalität vorzuspielen. Doch in seinem Keller hält der 35-Jährige den kleinen Wolfgang (David Rauchenberger) gefangen. Sein mit Bett, Fernseher, Mikrowelle und Essensrationen ausgestattetes Verließ darf der Junge nur verlassen, wenn die Jalousien blickdicht heruntergelassen sind und sein sexuell missbrauchender Peiniger ihn zum Essen ruft. Wortkarg, aber erschreckend routiniert ist der Umgang der beiden miteinander. Der Zehnjährige isst mit seinem Entführer, puzzelt mit ihm und hilft ihm beim Aufhängen der Weihnachtsdekoration. Wolfgang scheint sich seinem Schicksal in grenzenloser Abhängigkeit zu seinem ihn immer wieder wegsperrenden Peiniger zu fügen...

    Präzise beleuchtet Markus Schleinzer fünf Monate im Leben eines Pädophilen, der ein wehrloses Kind in seinem Haus festhält. Durch die Darstellung scheinbarer Normalität schafft er eine beklemmende Atmosphäre. Mit den Schreckensnachrichten um Natascha Kampusch oder die Fritzl-Familie haben die distanzierte Schilderung des Alltags und der Umgang Michaels mit dem eingesperrten Wolfgang Kontext genug – auch ohne unmittelbare Horrorbilder gehen Schleinzers Implikationen durch Mark und Bein. Wo in dieser Alltäglichkeit die Grenze zwischen Überlebensstrategie des Opfers und manipulativem Werk des Täters verläuft – und ob sie überhaupt gezogen werden kann –, ist auch in „Michael" unmöglich zu beantworten.

    Der Peiniger genießt die unbedingte Abhängigkeit des Jungen, der nicht einmal über das Licht im Kellerverschlag verfügen kann. Dass Schleinzer bei einem so abgründigen Stoff auf eine moralische Instanz verzichtet, ist eine so hochgradig kontrovers diskutierbare wie mutige Entscheidung, die in der Tradition von Matthias Glasners „Der freie Wille" mit Jürgen Vogel als pädophilem Vergewaltiger steht. In diesem Sinne agiert auch Michael Fuith („Rammbock", „Das große Glück sozusagen") in der schwierigen Titelrolle, indem er nicht einfach nur als verachtenswürdiger Kinderschänder, sondern auch als zurückhaltender Kollege, als biederes Familienmitglied, als fürsorgliche Vaterfigur und als kindlicher Spielgefährte auftritt. Fuith gelingt dabei das Kunststück, glaubwürdig zwischen all diesen Rollen zu changieren.

    So entsteht das Psychogramm eines Täters, dessen sexuelle Veranlagung weder dämonisiert, noch als schlichte Andersartigkeit trivialisiert wird. Auch bei der Besetzung des Opfers Wolfgang hat Regisseur Schleinzer seine Erfahrung als Casting-Director geltend gemacht und mit David Rauchenberger einen phänomenalen Jungschauspieler engagiert. Phasenweise scheint sich sein Wolfgang mit seinem Peiniger arrangiert zu haben, dann aber bringt er doch immer wieder die Kraft dazu auf, das Abhängigkeitsverhältnis in Frage zu stellen. Mit seiner konsequent neutralen und aus der Täterperspektive geschilderten Erzählweise hat Markus Schleinzer einen unangenehm packenden Film inszeniert. So viel steht fest: Wie auch die umfassende Berichterstattung zu den entsprechenden Fällen wird auch „Michael" lange nachhallen.

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