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    Versicherungsvertreter - Die erstaunliche Karriere des Mehmet Göker
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Versicherungsvertreter - Die erstaunliche Karriere des Mehmet Göker
    Von Asokan Nirmalarajah

    Woran es dem deutschen Film mangele, so die Meinung nicht weniger Experten, seien jene kulturspezifischen und dabei doch universellen Geschichten, mit denen sich Hollywood schon seit Jahrzehnten weltweit an der Spitze der Kinocharts behauptet. Wer aber genauer hinsieht, wird auch in hiesigen Gefilden Geschichten von amerikanischem Format finden – sogar im Dokumentarfilm-Bereich. Klaus Stern, bekannt für seine Fernsehdokus über schillernde Persönlichkeiten wie den entführten CDU-Politiker Peter Lorenz, den verurteilten Elternmörder Peter Pompetzki und den RAF-Anführer Andreas Baader, bringt mit „Versicherungsvertreter - Die erstaunliche Karriere des Mehmet Göker" nach „Weltmarktführer - Die Geschichte des Tan Siekmann" und „Henners Traum" nicht nur zum dritten Mal eine seiner Dokumentationen in die Kinos. Erstmals findet der frühere Wirtschafts- und Politikstudent auch zu einer Geschichte von internationalem Kino-Format – mit der fesselnden, wahnwitzigen Karriere eines türkischen Selfmade-Millionärs, die denen amerikanischer Gangsterfilmhelden in nichts nachsteht.

    Mehmet E. Göker ist kein Kind von Traurigkeit. Der Sohn türkischer Immigranten verdient die erste Million als 25-Jähriger von seinem Kinderzimmer aus am Telefon, indem er gutgläubigen Zuhörern private Krankenversicherungen aufschwatzt. Die bald von ihm gegründete Firma, die er ganz bescheiden MEG AG (Mehmet E. Göker Aktiengesellschaft) nennt, wächst unaufhaltsam innerhalb nur weniger Jahre zum zweitgrößten Vermittler von privaten Krankenversicherungen Deutschlands heran. Die Bosse der größten Privatversicherer (Allianz, Axa, Consal, Inter, Central und Hallesche) suchen die Nähe des erfolgsverwöhnten Göker auf aufwändigen Werbeveranstaltungen der MEG AG und zahlen seinen Mitarbeitern immer größere Summen für das Anwerben neuer Privatkunden. Mit diktatorischem Kalkül treibt Göker seine Angestellten an, stellt ihnen großzügige Provisionen in Aussicht, leistet sich verschwenderische Reisen in die USA und prämiert die erfolgreichsten Mitglieder seines sektenähnlichen Imperiums auf internen Preisverleihungen. Doch Ende 2009 ist die MEG pleite. Gegen Göker wird nun wegen unlauteren Wettbewerbs und Insolvenzverschleppung ermittelt...

    Regisseur und Autor Klaus Stern, der Größenwahn als sein filmisches Spezialgebiet bezeichnet, begann sich bereits 2006 für die Karriere des hyperaktiven Versicherungsmaklers Mehmet E. Göker zu interessieren. Damals befand sich der charmante Unternehmer noch auf dem beruflichen Höhenflug. Das Neukundengeschäft der privaten Krankenversicherungen bescherte ihm und seinen Jüngern bis zu 8.000 Euro pro erfolgreich abgeschlossenem Vertrag: genug Geld, um die MEG AG nicht als eine bloße Firma zu betrachten, sondern als einen Way of life zu predigen und einen regelrechten Kult darum zu kreieren, samt Tätowierungen des Firmennamens auf den Arm. Stern erzählt diese unfassbare Geschichte nüchtern und weitestgehend chronologisch, unterbrochen von dramaturgisch geschickten Vor- und Rückgriffen und Interviews mit ehemaligen Angestellten, darunter auch Ex-Fußballprofi Zoran Zeiljko und Thai-Box-Weltmeister im Superschwergewicht Marinko Neimarevic, der sich im Film das MEG-AG-Tattoo übermalen lässt.

    Der sparsame Einsatz erklärender Untertitel, das Fehlen eines Off-Kommentars, die detailverliebte Kamera und die geschickte Montage tragen dabei bedeutend zur Leinwandtauglichkeit des Films bei. Darüber hinaus weist „Versicherungsvertreter" verblüffende Parallelen zum Genre des amerikanischen Gangsterfilm auf: vom Migrationshintergrund des kühne Phrasen dreschenden Protagonisten („Wer seine Grenzen nicht kennt, hat auch keine") und seiner Liebe zu seiner ahnungslosen Mutter über seine arrogante Naivität, seine unfreiwillig komische Verehrung von drei unvereinbaren Idolen (der indische Friedenskämpfer Mahatma Gandhi, der britische Multimilliardär Richard Branson und sein verstorbener türkischer Vater Asim), bis hin zum charakteristischen Aufstieg-und-Fall-Narrativ klassischer Gangsterfilme wie „Scarface".

    Sterns souveräne Milieu- und Charakterstudie ist mit ihrer Inszenierung korrupter Yuppies auch ein White-Collar-Crime-Film über die Gier von Geschäftsleuten mit Göker als Gordon-Gekko-Verschnitt – ähnlich wie die Finanzdramen „Wall Street", „Glengarry Glen Ross" und „Risiko". Denn während keiner der Privatversicherer vor die Kamera wollte, zeigt sich der trotz 21 Millionen Euro Privatschulden lausbübisch lächelnde Göker in dem Interview, das Stern mit ihm in seiner Luxusresidenz in der Türkei führte und das den Film effektiv rahmt, weiterhin unbekümmert und erfinderisch. Und wenn er dann in der letzten Szene nach dem Abspann mit einem (un)freiwilligen Augenzwinkern beteuert, bei seiner neuen Firma Göker Consulting Group in der Türkei handle es sich nicht um seine, sondern um die seiner Mutter, mit ihm als einfachem Angestellten, dann fühlt man sich nicht zufällig erinnert an den alles andere als reumütigen Ex-Mafioso Henry Hill am Schluss von Martin Scorseses Gangsterfilm-Klassiker „GoodFellas".

    Fazit: In der fesselnden WDR-Dokumentation „Versicherungsvertreter" kombiniert Klaus Stern in einem zügigen Erzähltempo selbst gedrehtes Material, geheime Firmenvideos, Interviews mit ehemaligen Mitarbeitern, Nachrichtenreportagen und Youtube-Videos zu einer ästhetisch ansprechenden Produktion von echtem Kinoformat. Über 79 kurzweilige Minuten entfaltet er das aberwitzige Porträt einer beunruhigend sympathischen Persönlichkeit der Finanzwelt.

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