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    Enemy
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Enemy
    Von Björn Becher

    Bevor der kanadische Regisseur Denis Villeneuve mit dem düsteren Thriller „Prisoners“ sein Hollywood-Debüt gab, wollte der Filmemacher, der bis dahin nur in französischer Sprache gearbeitet hatte, schon einmal ein Gespür für den Dreh in Englisch entwickeln. Er hat also gleichsam als Testlauf für die aufwendige und komplexe Folter-Geschichte noch ein kleineres Projekt eingeschoben und realisierte den Psychothriller „Enemy“, eine kanadisch-spanische Produktion mit seinem designierten „Prisoners“-Star Jake Gyllenhaal in der Hauptrolle. Wer nun aufgrund dieser Entstehungsgeschichte vermutet, dass das Doppelgänger-Verwirrspiel eine bloße Fingerübung sei, ist allerdings schiefgewickelt. Mit „Enemy“, der gemeinsam mit „Prisoners“ auf dem Filmfestival in Toronto 2013 seine Weltpremiere feierte, beweist der Regisseur von „Polytechnique“ und „Die Frau, die singt“ einmal mehr seine Wandlungsfähigkeit. Die sehr freie Adaption des Romans „Der Doppelgänger“ von Nobelpreisträger José Saramago („Die Stadt der Blinden“) ist eine atmosphärisch dichte, surreale, nicht einfach durchdringbare, aber ungemein spannende Charakterstudie mit viel David Lynch, einer gehörigen Portion Franz Kafka und einer Prise David Cronenberg.

    Adam Bell (Jake Gyllenhaal), Uni-Professor für Geschichte, führt ein eher karges Leben. Nach seinen Vorlesungen kehrt er in ein spärliches Hochhaus-Appartement zurück, korrigiert Arbeiten, hat kurz Sex mit Freundin Mary (Mélanie Laurent), mit der er im Übrigen kaum zu reden scheint, und geht schlafen – am Morgen beginnt das Gleiche wieder von vorne. Als ihm ein Kollege etwas verdruckst einen schon etwas älteren Independentfilm aus lokaler Produktion empfiehlt, schaut Adam sich diesen aus einer Laune heraus an und macht eine Entdeckung, die sein Leben verändert: Ein Statist in dem Film ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Der Gedanke an den Doppelgänger lässt Adam nicht los, schließlich macht er ihn ausfindig und beobachtet ihn: Der Mann heißt Anthony St. Claire (ebenfalls Jake Gyllenhaal) und ist mit der schwangeren Helen (Sarah Gadon) verheiratet. Er sieht Adam nicht nur zum Verwechseln ähnlich, auch ihre Stimmen lassen sich nicht auseinanderhalten. Der Professor versucht Kontakt mit seinem Doppelgänger aufzunehmen, aber Anthony reagiert zunächst abweisend. Plötzlich ist er dann doch zu einem Treffen bereit - und damit fängt der Wahnsinn für Adam und Anthony erst richtig an…

    Regisseur Denis Villeneuve und Drehbuchautor Javier Gullon („Invader“) sorgen von der ersten Sekunde an gezielt für anregende Verwirrung beim Publikum. In der Auftaktszene tanzt eine nackte Frau in einem dunklen Hinterzimmer lasziv vor einer Schar lüsterner Kerle – unter ihnen einer der von Jake Gyllenhaal gespielten Doppelgänger. Kurz nachdem die Tänzerin eine große Vogelspinne in ihre Performance einbezieht, kommt der Schnitt  - jetzt lernen wir Adam, den Professor kennen und halten ihn natürlich zunächst einmal für den Mann aus der Spelunke. Doch die Frage der Identität bekommt hier niemals eine einfache Antwort und auch das Spiel mit dem Spinnenmotiv, das sich durch den ganzen Film zieht - so begegnet Adam in einer surrealen Sequenz einer Frau mit riesigem Spinnenkopf auf ihrem nackten Oberkörper -, trägt dazu bei, dass „Enemy“ nicht leicht zu entschlüsseln ist. Es ist genau diese Rätselhaftigkeit, die das Filmerlebnis so faszinierend macht: Wie stehen Adam und Anthony zueinander? Sind sie getrennte Brüder? Gibt es wirklich beide oder sind sie womöglich ein und dieselbe Person? Oder ist Anthony vielleicht nur ein Hirngespinst?

    Auf jeden Hinweis, der in eine bestimmte Richtung deutet, lassen Villeneuve und Gullon ein Indiz folgen, das auch gegenteilig zu deuten ist. Sie nehmen sich Zeit, um ein ebenso spannendes wie vielschichtiges Motivnetz zu spinnen, wobei sie sich deutlich von der (deutlich offensichtlicheren) Buchvorlage entfernen. Auch die dortige klare Auflösung verwerfen der Regisseur und sein Autor, die ohnehin nur ein Teil der deutlich weitergehenden Handlung des Buches adaptiert haben, und setzen in ihrer starken Schlussszene noch einmal ein neues Fragezeichen: Der Zuschauer wird eingeladen, sich seinen eigenen Reim auf das Geschehen zu machen und dabei sind mehrere, allesamt plausible Lesarten möglich. Diese assoziative und traumartig verrätselte Erzählweise erinnert an einige Filme von David Lynch wie „Lost Highway“ oder „Mulholland Drive“, auf diese Verwandtschaft weist Villeneuve selbst indirekt hin, indem er Isabella Rossellini („Blue Velvet“) für einen Kurzauftritt als Adams Mutter besetzt. Auch der Geist von Body-Horror-Meister David Cronenberg („Naked Lunch“) ist hier allerorten spürbar – und das nicht etwa, weil dessen Tochter Caitlin als Set-Fotografin an „Enemy“ beteiligt war. Vielmehr hat Villeneuve mit Sarah Gadon („Cosmopolis“) sicher nicht ganz zufällig der aktuellen Muse seines Landsmanns eine entscheidende Rolle anvertraut und außerdem wecken seine Spinnen-Bilder Erinnerungen daran, dass Cronenberg einst mit Ralph Fiennes einen Psycho-Thriller namens „Spider“ drehte, in dem es um trügerische Erinnerungen und Schizophrenie geht.

    Zu den erwähnten filmischen Wahlverwandtschaften gesellt sich eine literarische, die wohl die deutlichsten Spuren in „Enemy“ hinterlässt: Franz Kafka war das große Vorbild des 2010 verstorbenen Buchautors Saramago, der der Spezies Mensch ähnlich skeptisch gegenüberstand wie der berühmte Schöpfer von „Der Prozess“, „Das Schloss“ und „Die Verwandlung“. Diese Haltung durchzieht auch Villeneuves Verfilmung, der Regisseur schafft zudem eine düster-mysteriöse wahrlich kafkaeske Atmosphäre: Handlungsort und -zeit sind nur vage umrissen (selbst die Schrift des Abspanns wirkt unbestimmt altmodisch) und die Bilder fast ins Farblose verblichen, dazu wummert die Musik bedrohlich-eintönig. „Enemy“ könnte so gesehen auch aus den Achtzigern, den Neunzigern oder vom Anfang des Jahrtausends stammen und nicht von 2013. Die einzige konkrete zeitliche Einordnung erfolgt durch den Hinweis, dass der Film, in dem Adam Anthony erstmals entdeckt, aus dem Jahr 2005 stammt. Auch der Schauplatz Toronto wird mit keinem Wort identifiziert, die kanadische Metropole bleibt in „Enemy“ eine grau in grau gehaltene, austauschbare Großstadthölle.

    Die anonymen Straßen und Häuser lassen sich durchaus auch als Seelenlandschaft des/der sich zunehmend verlierenden Protagonisten interpretieren, in dieser Doppelhauptrolle brilliert Jake Gyllenhaal, der mit dem ähnlich interpretationsoffenen „Donnie Darko“ seinen Durchbruch feierte: Der in einem tristen Appartement hausende Adam wirkt mit seinen hängenden Schultern und den tief in den Taschen vergrabenen Händen durch und durch unsicher, während der erfolglose Schauspieler und forsche Motorradfahrer Anthony, der sich aus irgendeinem Grund eine schicke Wohnung leisten kann, selbstbewusst und energisch auftritt. Doch als Adam in seinem Leben auftaucht, ist er für einen Moment ebenfalls verunsichert und versucht erst einmal jeglichen weiteren Kontakt zu unterbinden. So ist auch der Titel „Enemy“ janusköpfig: Ist Adam, der Anthony wie ein Stalker nachsetzt, ein Eindringling oder ist Anthony, der nach und nach die Kontrolle übernimmt, eine Gefahr für Adams Leben? Eine wichtige Rolle haben bei diesem Psycho-Machtspiel die Frauen inne. Mélanie Laurent („Inglourious Basterds“) ist die sexy Freundin, während Sarah Gadon als hochschwangere Helen die brave Ehefrau verkörpert. Die (männliche) Wahrnehmung der beiden kontrastierenden Figuren wird von Villeneuve gezielt auf eine archetypische Spitze getrieben, indem er immer wieder ihre nackten Körper ins Bild setzt - dort die Sexbombe und hier der Schwangerschaftsbauch. Und so werden (nicht nur) die Doppelgänger mit der Frage konfrontiert: Wer ist begehrenswerter?

    Fazit: Bei Denis Villeneuves Psycho-Thriller-Verwirrspiel „Enemy“ ist der Zuschauer dazu eingeladen, sich seine ganz eigene Interpretation der faszinierenden Erzählung zu machen, bei der jede Dialog- und Monologzeile ein eigenes Indiz ist. Unbedingt anschauen!

    PS: Da man sich unbedingt eine eigene Interpretation der Geschehnisse machen sollte - sich also gänzlich unvorbelastet von anderen Meinungen auf den Film einlassen sollte - und sehr unterschiedliche Lesarten möglich sind, wurde in der obigen Kritik bewusst auf eine eigene Ausdeutung verzichtet. Wer sich trotzdem für die Lesart des Autors interessiert, dem seien (ACHTUNG SPOILER) folgende (nach dem Genuss des Films verständliche) Worte an die Hand gegeben: Blaubeeren, abgerissenes/ganzes Foto, ein und dieselbe Person, Fremdgehen, Heimkehr des reuigen Liebhabers zur Ehefrau.

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