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    The Witch
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    The Witch
    Von Christoph Petersen

    Hätte es im Neuengland des 17. Jahrhunderts Psychotherapeuten gegeben, sie hätten sich vermutlich dumm und dämlich verdient. Wenn der Sohn schon vor dem Frühstück runterbeten muss, dass er in Frevel geboren wurde und Adams Erbsünde mit sich rumschleppt, dann kann das einfach nicht gesund sein. Die titelgebende Hexe in Robert Eggers‘ „The Witch“ mag Besitz von Tieren ergreifen, Knaben mit ihren üppigen Reizen in ihre Hütte locken und wehrlose Babys stehlen – aber die intensivste Szene des Films ist trotzdem eine andere: Wenn der junge Caleb (Harvey Scrimshaw) noch auf den Sterbebett zu Gott findet, ist das ein wahnsinnig intensiver Moment irgendwo zwischen „Der Exorzist“ und „Martyrs“, der gerade deshalb so verstört, weil die pure Glückseligkeit in den Worten des Jungen in einem so scharfen Kontrast zu seinem sich unnatürlich aufbäumenden kleinen Körper steht. „The Witch“ wurde seit seiner gefeierten Premiere auf dem Sundance Film Festival 2015 mit Kritikerlob regelrecht überschüttet, zugleich aber vom regulären US-Kinopublikum mit einer miserablen Cinemascore-Durchschnittsbewertung abgestraft – beides ist gleichermaßen verständlich.

    Neuengland um 1630: Weil er auf einer absolut reinen Auslegung der christlichen Lehre besteht, wird der englische Siedler William (Ralph Ineson) mitsamt seiner Frau Katherine (Kate Dickie) und seinen fünf Kindern wegen „hochmütiger Arroganz“ von einer christlichen Plantage verstoßen. Als die nun isolierte Familie eine eigene Farm am Rand eines großen Waldes errichtet, kommt es zunehmend zu unerklärlichen Ereignissen: Nachdem der ältesten Tochter Thomasin (Anya Taylor-Joy) beim Spielen ein Baby abhandenkommt (wahrscheinlich war es ein Wolf, vielleicht aber auch eine Hexe), wenden sich die strenggläubigen Familienmitglieder trostsuchend im Gebet an Gott. Allerdings führt ihr (Aber-)Glaube auch dazu, dass sie sich gegenseitig immer mehr verdächtigen, an der Misere schuld zu sein und mit dunklen Mächten im Bunde zu stehen…

    Drive“ wird von uns und Filmfans im Internet gleichermaßen als bahnbrechendes Meisterwerk abgefeiert – und zugleich hat der Neo-Noir mit Ryan Gosling in den USA eine der schlechtesten Zuschauerwertungen aller Zeiten eingefahren, ganz einfach deshalb, weil er als etwas beworben wurde, das er nicht ist: nämlich als typischer Actionfilm. Bei „The Witch“ liegt die Sache ähnlich. Der US-Verleih zielte mit seiner Werbung vor allem auf das gruselhungrige Publikum von Erfolgsfilmen wie „Conjuring“ oder „Paranormal Activity“ - und fuhr auf diese Weise zwar viel Geld, aber nur wenig Zustimmung ein: Statt der üblichen Jump Scares (also schneller Schnitt + lauter Ton = kurzer Schreck) setzt Langfilmdebütant Robert Eggers auf eine subtil-spröde, langsam immer ungemütlicher werdende Atmosphäre, die sich weniger aus den übernatürlichen Vorkommnissen, als vielmehr aus den hardcore-christlichen Figuren und ihrer wahnhaften Paranoia speist. Selten hat ein Film so hervorragend rübergebracht, wie angsteinflößend es eigentlich sein muss, wenn man tatsächlich wörtlich an all das glaubt, was da in der Bibel steht.

    Ein weiteres Missverständnis ist offenbar (zumindest lässt sich das aus vielen Userkommentaren zum Film herauslesen), dass viele Zuschauer eine Art Rätsel erwartet haben, ob es nun tatsächlich eine Hexe gibt oder nicht. Aber wie schon der englische Untertitel des Films aussagt, handelt es sich hier um „eine neuenglische Volkssage“ – und solche klassischen Märchen warten nun mal selten mit großartigen Twists auf: Selbst wenn „The Witch“ bis zum Schluss absolut unvorhersehbar bleibt, ist doch von Anfang an klar, dass die Hexe hier sehr wohl real existiert. Ziemlich überraschend ist hingegen, dass die mit dem Teufel persönlich unter einer Decke steckende Hexe nicht das größte Übel zu sein scheint: Die beunruhigenden Dialoge der Familienmitglieder über Glaube, Gott, Zweifel, schwarze Magie, Erbsünde und Schuld sind größtenteils direkt aus realen Tagebucheinträgen und historischen Gerichtsakten übernommen – und erreichen so eine wahrhaft erschreckende Authentizität (also am besten im Original mit deutschen Untertiteln gucken).  

    Auch visuell ist der schnörkellos-stimmungsvolle „The Witch“ ein wahres Fest, speziell für Freunde des Renaissance-Malers Albrecht Dürer (1471-1528): Regisseur Robert Eggers selbst ist bekennender Fan des Nürnberger Meisters und zitiert in „The Witch“ nicht nur gekonnt Dürers naturalistischen Stil, sondern übernimmt zudem auch direkt einige von dessen bekanntesten Motiven: So erinnert Vater William in seinem ganzen äußeren Erscheinungsbild extrem an die Selbstporträts Dürers und der legendäre Feldhase des Malers taucht im Film auch immer wieder auf – als surreales Symbol à la David Lynch kündigt er das nahende Unheil an.

    Fazit: Für den effektiven Gruselfix zwischendurch wartet man lieber noch einen Monat auf den Kinostart von „Conjuring 2“. Aber wer seinen Horror gerne auch mit einer Extra-Prise Anspruch genießt, der ist bei dem ebenso abgrundtief verstörenden wie wunderschön fotografierten „The Witch“ genau richtig!

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