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    Wo die wilden Menschen jagen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Wo die wilden Menschen jagen
    Von Tobias Mayer

    Im Oktober 2017 kommt „Thor 3: Ragnarok“ mit Chris Hemsworth, Tom Hiddleston und Cate Blanchett in die Kinos. Der Untertitel (Ragnarok heißt Götterdämmerung) deutet auf schweren Stoff hin, zu ernst aber soll das dritte Abenteuer des hammerschwingenden Superhelden trotzdem nicht werden – das wünschte sich Donnergott Hemsworth persönlich. Und mit dem neuseeländischen Regisseur, Autor, Schauspieler und Comedian Taika Waititi wurde genau der richtige Mann verpflichtet, um diesen Wunsch zu erfüllen. Kurz vor Beginn der Dreharbeiten zum Marvel-Blockbuster im Juli 2016 hat er die Abenteuer-Tragikomödie „Wo die wilden Menschen jagen“ fertiggestellt und beweist nach seiner urkomischen Vampir-Mockumentary „5 Zimmer, Küche, Sarg“ ein weiteres Mal sein besonderes Gespür für Humor und präzises komisches Timing. Waititi frönt der fröhlich-fantasievollen Übertreibung, lässt zwischen den lustigen Szenen aber auch Raum, um ernsthaft von Einsamkeit und Verlust zu erzählen.

    Der Junge Ricky Baker (Julian Dennison) spricht zunächst kein Wort, als er von der Kinderfürsorge in die Obhut der Pflegeeltern Bella (Rima Te Wiata) und Hec (Sam Neill) gegeben wird. Ricky kommt aus schwierigen Verhältnissen, hat einige Delikte auf dem Kerbholz und versucht bei der ersten Gelegenheit wieder abzuhauen, doch die nachsichtige und engagierte Bella fängt den Ausreißer wieder ein. Als Ricky sich gerade an sein neues Zuhause gewöhnt und beginnt sich zu öffnen, stirbt Bella. Weil Ricky nun zurück ins Heim soll, flüchtet er erneut. Diesmal wird er von Hec eingeholt und gemeinsam haben der junge Möchtegerngangster und der mürrische Alte auf ihrer Flucht durch die Wildnis bald nicht nur die unnachgiebige Kinderfürsorgerin Paula (Rachel House) an den Fersen, sondern auch die Polizei und das Militär…

    Für die Disney/Marvel-Produktion „Thor 3“ wurden die Village Roadshow Studios in Queensland, Australien gebucht, der abseits des Studiosystems produzierte „Wo die wilden Menschen jagen“ entstand südöstlich davon, auf der anderen Seite der Tasmansee in Neuseeland. Das tragikomische Abenteuer ist fest in der Heimat Taika Waititis verwurzelt: Kenner entdecken Verweise aufs neuseeländische Kino der 1970er und 80er (in Roger Donaldsons „Schlafende Hunde“ von 1977 etwa spielt Sam Neill einen Einsiedler, der vor der Staatsmacht in den Wald flieht) und wiederkehrende Themen aus Waititis ersten Spielfilmen. Der kleine Ricky ist ein Außenseiter, ein bisschen wie Lily (Loren Taylor) und Jerrod (Jemaine Clement) aus „Eagle vs Shark“, und wie die 11-jährige und damit ungefähr gleichaltrige Hauptfigur aus „Boy“ wächst er ohne Eltern auf und malt sich die oft triste Realität mit Tagträumen bunter, etwa als er sich im Wald einen Walkman aus Blättern aufsetzt und selbstvergessen tanzt.

    Waititi, der das Drehbuch nach einem Roman des neuseeländischen Bestsellerautors Barry Crump schrieb, braucht nur wenige Szenen, um Rickys Einsamkeit nachfühlbar zu machen: Wenn der Junge alleine auf dem Bett sitzt, eine Wärmeflasche in den Armen, dann ist das ein simpler, berührender Blick auf das Seelenleben des Waisenjungen. Immer wieder lässt Newcomer Julian Dennison aber auch den Spieltrieb unter der Oberfläche aufblitzen: Ricky hat keine Lust, sich dem Trübsinn zu ergeben. Der Regisseur übrigens auch nicht und so zeigt er viel Spaß am dreisten Zufall und der genüsslichen Übertreibung. Einmal trifft Ricky urplötzlich ein Mädchen (Tioreore Ngatai-Melbourne), das ihm bezaubernd lächelnd direkt in den Weg reitet und ihm freundlich Unterschlupf gewährt, ein anderes Mal müssen Ricky und Hec gegen ein aggressives, monsterartiges Wildschwein kämpfen, als hätten sie sich nach Mittelerde verirrt. Und im turbulenten Finale (das hier nicht gespoilert werden soll) macht Waititi aus der Verfolgungsjagd, die vorher zu Fuß erfolgte, eine motorisierte Hatz ohne größere Boden- und Realitätshaftung.

    Flott, aber nie gehetzt verdichtet Taika Waititi die monatelange Flucht auf etwa drei Viertel der bloß 100 Filmminuten, auch der Humor bleibt bei der rasanten Hatz nicht auf der Strecke: „Hunt For The Wilderpeople“ ist im Unterschied zu „5 Zimmer, Küche, Sarg“ oder dem witzigen „Team Thor“-Kurzfilm,  in dem die Abstinenz des blonden Hünen während des „Civil War“ erklärt wird, keine im Doku-Stil gehaltene Komödie, doch Waititis trockener Humor bleibt unverkennbar und die Pointen sitzen. Das ist nicht zuletzt „Jurassic Park“-Star Sam Neill zu verdanken, der nur wenige Worte oder einen kurzen Blick braucht, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. So etwa in der mehr witzigen als traurigen Beerdigungsszene: Der Filmemacher selbst spielt dort in einem Kurzauftritt den Priester und gibt im Duktus energisch-beseelter Überzeugung ein plattes Gleichnis zum Besten, während Neills trauernder Witwer den Quatsch mit einem konsterniert-wütenden, in diesem Kontext auch saukomischen Gesichtsausdruck über sich ergehen lässt.

    Fazit: „Wo die wilden Menschen jagen” ist eine witzige, wilde und warmherzige Verlust- und Fluchtgeschichte aus den Wäldern Neuseelands, die den ganz persönlichen Stempel von Regisseur  Taika Waititi trägt.

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